Gianrico Carofiglio: "Drei Uhr morgens"

Literatur mit langfristigem Effekt

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Ein Porträtfoto zeigt das Gesicht von Gianrico Carofiglio im Profil vor schwarzem Hintergrund.
Er schreibt Krimis, aber hält nicht viel von Genregrenzen: Gianrico Carofiglio. © imago images / ZUMA Press / NurPhoto /Omar Bai
Von Dirk Fuhrig |
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Gianrico Carofiglio ist als Krimi-Autor berühmt geworden. Der Italiener hat davor auch als Staatsanwalt und als Politiker gearbeitet. Sein neues Buch "Drei Uhr morgens" ist aber kein Krimi, sondern eine Vater-Sohn-Geschichte über Epilepsie.
Als wir uns zum Interview auf der Frankfurter Buchmesse treffen, haben Italiens rechte Parteien gerade zu einer Großdemonstration nach Rom aufgerufen. Gianrico Carofiglio - groß, schlank, prägnantes Profil - wirkt beunruhigt über die Entwicklung in seinem Heimatland. Aber sein Urteil fällt kühl aus.
"Die Rechte hat im Land noch großen Rückhalt. Aber man sieht - etwa in Portugal -, dass eine kluge linke Politik erfolgreich sein kann und dass eine solche Regierung wiedergewählt werden kann. Ihre Stärke war, dass sie sich den sozial Schwachen zugewandt hat, ohne die Wirtschaft außer Acht zu lassen."

Früher Politiker gewesen

Das erhofft er sich auch für die neue Koalition in Italien. Der erfolgreiche Romanautor analysiert die Lage wohl auch deshalb so sachlich, weil er bis vor sechs Jahren selbst Politiker war - nämlich als Mitglied des italienischen Senats für die sozialdemokratische Partei, den Partido Democratico. Kein Wunder, dass er den abrupten Regierungswechsel vor wenigen Wochen gut findet:
"Die Rechte unter Matteo Salvini hat sich verkalkuliert und einen enormen politischen Fehler gemacht. Dadurch ist eine Regierung, die ganz rechts stand, plötzlich zu einer linken Regierung geworden. Das ist ein großes Glück."

Regierung ist ein Glücksfall für Italien

Gianrico Carofiglio, der ruhig und überlegt antwortet, ist es wichtig hinzuzufügen, dass er das Flüchtlingsthema in Italien von Salvini sehr aufgebauscht findet. Und dass die aus deutscher Sicht so populistisch agierende Fünf-Sterne-Bewegung in der neuen Koalition mit "seiner" Partei zu ihrer eigentlichen - linken - Identität zurückfinden könnte:
"Man kann diese Regierung ein Experiment nennen. Aber sie ist ein Glücksfall für Italien. Die Fünf Sterne haben nun die Chance, aus ihrer pubertären Phase herauszukommen, zu wachsen und zu reifen."

Kein Freund von Etiketten

Eigentlich haben wir uns natürlich verabredet, um über sein neues Buch "Drei Uhr morgens" zu sprechen. Auch das kann man in gewisser Weise als Experiment bezeichnen. Denn anders als Carofiglios vorherige Romane ist es keine Kriminalgeschichte - für die der 58-jährige Autor von "Das Gesetz der Ehre" oder "Eine Frage der Würde" bekannt geworden ist. Aber auf Genre-Zuordnungen ist Carofiglio nicht gut zu sprechen:
"Etiketten mögen in der Literatur unverzichtbar sein, sollten aber nicht überstrapaziert werden. 'Schuld und Sühne' von Dostojewski - ist das nicht auch ein Krimi? Oder 'Ödipus' von Sophokles? Oder der 'Hamlet' von Shakespeare?"

Roman über Epilepsie

Große Namen, die hier in der tosenden Halle 4.1 der Frankfurter Messe plötzlich ins Spiel kommen. Dabei ist "Drei Uhr morgens" ein leises, eher unspektakuläres, aber sehr eindringliches Buch. Es geht um Vater und Sohn, die sich wegen der Scheidung der Eltern kaum kennen.
Weil der an Epilepsie erkrankte Sohn schließlich den führenden Spezialisten für diese Krankheit in Marseille aufsuchen muss, reisen die beiden dorthin. In den zwei Tagen und Nächten, die sie gemeinsam verbringen, entdecken sie sich gegenseitig. Und Marseille spielt als Kulisse für den Roman auch eine große Rolle.
Das Cover des Romans "Drei Uhr Morgens" zeigt in schwarz-weiß eine Figur von hinten, die von einem Betonsteg auf das Meer blickt. 
Eine leise, aber eindringliche Vater-Sohn-Geschichte über Epilepsie: "Drei Uhr morgens".© Folio Verlag
"Natürlich hätte das Buch auch in Neapel oder anderswo spielen können. Aber in Marseille ist dieses Zentrum für die Behandlung der Epilepsie und der Arzt lebt auch dort. Die Kontraste, die Poesie, die in der Stadt liegt. Es gibt Viertel, die total heruntergekommen sind und gleich danach stößt man auf Orte, die so wundervoll sind wie auf Korsika oder Sardinien."

Kampf gegen die Mafia

So ist das Buch auch eine Art Liebeserklärung an diese raue Schöne unter Frankreichs Metropolen, in der der Autor während eines Schriftsteller-Stipendiums mehrere Monate verbracht hat.
Gianrico Carofiglio wurde 1961 in Bari geboren, also am Absatz des italienischen Stiefels. Dort hat er sich als Jurist dem Kampf gegen die Mafia gewidmet – bevor er erst Politiker, dann Kriminalautor wurde. Natürlich frage ich ihn, was er von dem anderen berühmten Mafiajäger und Schriftsteller Roberto Saviano hält – und ernte geheimnisvolles Schweigen. Kein Kommentar, nun gut, auch das ist eine Antwort.

Effekt von Literatur ist langfristiger

Kommen wir also zum Schluss unseres Gesprächs. Denn ich will noch wissen, warum er den Kampf gegen die Kriminalität, also seinen Beruf als Staatsanwalt, denn aufgegeben hat, um nur noch Bücher zu schreiben.
"In der Justiz hat man einen unmittelbaren Effekt auf die Menschen", sagt Carofiglio. "Als Schriftsteller, zumindest wenn man gute Literatur schreibt, ist der Effekt eher langfristiger. Es geht ja darum, den Sinn des Lebens für die Menschen zu beeinflussen."
Die Nachhaltigkeit von Literatur - da sind wir also wieder bei Dostojewski, Sophokles und Shakespeare. Gianrico Carofiglio hat noch viel vor in seinem Schriftstellerleben.
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