Gibraltar des Nordens

Von Wolfgang Stenke |
1947 sprengten britische Militärs die Militäranlagen der Wehrmacht auf der Nordseeinsel Helgoland. Sie nahmen mit der gewaltigen Detonation alter Munitionsbestände in Kauf, dass das Eiland fortan unbewohnbar werden würde.
"Wir haben einen schönen Tag hier draußen erwischt. Es ist strahlend blauer Himmel, im Süden einige Wolkentupfer und einige Zirren. Leicht bewegte, fast ruhige See."

Der Hochseeschlepper "Danzig" fuhr am Morgen des 18. April 1947 von Cuxhaven aus durch die Deutsche Bucht. Vorbei an den Feuerschiffen "Elbe I" und "Elbe II" nahm er Kurs auf die Insel Helgoland. An Bord waren etwa 20 Journalisten: Zeitungsleute, Kameramänner der Wochenschau und der Radioreporter Hermann Rockmann.

"Ein denkwürdiger Tag für uns, denn um 12.45 Uhr, auf ein Zeitzeichen des Londoner Rundfunks hin, wird auf einen Hebeldruck von einem Schiff der Royal Navy die seit Monaten in den Bunkern, in den Magazinen und Kasematten gestapelte hochbrisante Munition von Torpedos, Torpedoköpfen, Geschossen und Raketengeschossen in die Luft gejagt werden."

Die britische Besatzungsmacht schickte sich an, ein Symbol des deutschen Militarismus zu beseitigen. Die während des Ersten Weltkrieges und im Dritten Reich errichteten Festungsanlagen, die den Marinestützpunkt zum Gibraltar des Nordens gemacht hatten, sollten mit einem Schlag vernichtet werden. Das Risiko der Zerstörung des Naturdenkmals Helgoland nahmen die Briten dabei in Kauf. Von Bord der "Danzig" aus beobachtete der Reporter die Detonation der gut 6700 Tonnen Sprengstoff.

"Und jetzt in dieser Sekunde ist die Rauchwolke dort emporgeschossen. Ein erregender Augenblick für alle, die hier sich auf dem Schiff befinden. In mächtigen Rauchpilzen schießt der Qualm empor, die Sprengung ist erfolgt, ein mächtiger Druck, die sechs- bis siebentausend Tonnen Sprengstoff dort drüben auf der Insel sind in die Luft gegangen. Weit geht der Schall hinüber bis zur Küste, bis zum Festland hinaus. Wir wissen, dass viel zerstört ist. Und wir hoffen nur, dass ein Teil der Insel erhalten geblieben ist, dass sie für die Helgoländer später wieder bewohnbar ist."

Die Detonation hinterließ einen gewaltigen Krater im so genannten Mittelland, konnte die Insel insgesamt aber nicht zerstören. Sandstein und Muschelkalk, das geologische Fundament von Helgoland, hielten dem gewaltigen Druck stand. Doch die im Mai 1945 auf das Festland umgesiedelten Bewohner mussten weiterhin zusehen, wie die britische Luftwaffe Helgoland als Übungsziel für ihre Bomber benutzte. In Petitionen an die UNO und den Papst forderten sie das Recht auf Rückkehr ein. Der Bundestag und die Regierung Adenauer unterstützten sie mit Interventionen bei der britischen Besatzungsmacht. In einer Protestaktion besetzten Studenten mit Hilfe von Helgoländer Fischern im Jahre 1950 kurz vor Weihnachten die Insel.

Erst nach zähen Verhandlungen zwischen Bonn, London und dem alliierten Hochkommissar gab die Besatzungsmacht nach: Am 1. März 1952 wurde Helgoland, wo Hoffmann von Fallersleben 1841 das "Lied der Deutschen" dichtete, Bestandteil des Bundesgebietes. Friedrich-Wilhelm Lübke, Ministerpräsident von Schleswig-Holstein, der Bruder des späteren Bundespräsidenten Heinrich Lübke, beim Festakt zur Übergabe der Insel an deutsche Behörden:

"Helgoland ist weder heute, noch war es früher ein Gibraltar des Nordens. Solche Fehlbewertung der Insel wird auch durch ihre militärischen Befestigungen in den vorangegangenen Epochen nicht begründet. Was dieser Felseninsel inmitten der Nordsee die Liebe der Deutschen eingetragen hat, sind Werte ganz anderer Ordnung. Ihre Schönheit, die Freude an diesem einmaligen Naturdenkmal und die Heimatliebe seiner Bevölkerung."

Die Helgoländer durften zurückkehren. Es begann der Wiederaufbau der Insel, die in der frühen Nachkriegszeit nichts war als eine Wüste aus Schutt und Trümmern. Heute, 60 Jahre nach der großen Detonation, ist Helgoland wieder ein beliebtes Touristenziel, angesteuert von Katamaranen und Bäderschiffen. Die Insel lebt vom Fremdenverkehr , ein staatlich anerkanntes Seeheilbad mit knapp 1500 Einwohnern, zollfreien Läden und Forschungseinrichtungen für Meeresbiologie und Vogelkunde, übrigens weitgehend autofrei bis auf ein paar Behörden- und Rettungsfahrzeuge sowie einen einzigen Streifenwagen der Polizei.