Ein Dorf mit Zukunft?
Die Dörfer in Deutschland sterben aus. Aber nicht Giershagen im Sauerland. Dort gibt es einen Tante-Emma-Laden, das Mitfahrbänkchen fürs Fahren per Anhalter und eine Handvoll Vereine. Alles andere als in Klinker gemauerte Langeweile.
Es ist natürlich nie schön, in einer Stadt anzukommen, wenn das Wetter schlecht ist. Paris im Sturm ist ohne Kunst, Moskau im Frost ist reines Putin und auch meine Stadt Berlin ist im Regen nicht sexy, sondern nur arm.
Als ich nach Giershagen kam – das liegt im Sauerland, ein wenig südlich von Brilon oder Marsberg, die auf der Landkarte etwas bedeutender erscheinen – als ich nach Giershagen kam, war Winter. Giershagen liegt im Hochsauerland, weshalb der Winter schon vor Tagen reichlich Schnee gebracht hatte. Inzwischen hatte das Thermometer die Null-Grad-Marke wieder überstiegen. Der Schnee war dabei, Matsch zu werden. Der Himmel, die Landschaft - alles grau in grau. Die Felder, die Wälder - alles in dichtem Nebel. Die Straßen glitzerten tückisch. Die Luft kroch feucht und kalt ins Auto. Dachlawinen rutschten von den Häusern. "Hier sollst du aussteigen?", dachte ich. Und dann: Warum Giershagen? Warum nicht mit Putin in Moskau? Oder pleite in Berlin? Warum Giershagen? Warum Dorf?
Drei Männer stehen in einer Scheune. Die Scheune auf einem Hügel an der Ortsausfahrt von Giershagen ist dem winterlichen Wind in einer Weise ausgesetzt, die ich persönlich nur beklagen kann. Der Orkan "Kyrill" hatte den Vorgängerbau abgerissen, Nachfolgerin "Friederike" war an dem soliden Neubau gescheitert. Was ein Glück ist, denn sonst hätte der Karneval in Giershagen ohne sein Wappentier starten müssen. In der Scheune ist es kalt, ich finde: scheißenkalt.
"Für einen Sauerländer ist scheißenkalt relativ, bei uns ist man das gewöhnt und da kann man das ab, und Arbeit hält ja auch ein bisschen warm", sagt Volker Schröder. Er ist groß, schlank, mit Marathonläuferfigur und prinzentauglichem Lächeln. Volker Schröder war diesjähriger Karnevalsprinz und steht damit in einer Familientradition, der er wohl kaum entgehen kann. Der Vater war schon Prinz, der ältere Bruder auch, einer von Volker Schröders Söhnen wurde an einem Rosenmontag geboren – da kann man nicht anders.
"Ich war ein paar Jahre weg, bin aber froh, mittlerweile wieder hier zu sein. Hab sechs Jahre im Badischen gewohnt, war eine schöne Zeit, der erste Sohn ist da unten geboren, mittlerweile sind noch zwei gekommen und man muss ganz einfach sagen, dass hier oben das Leben dann ein bisschen einfacher ist. Ein Hauseigentum kann man sich da unten, Einzugsraum Stuttgart, Baden-Baden, nicht leisten, der Wohnraum hier oben ist ein bisschen bezahlbarer. Und das ganze Drumrum, man kennt das Dorf hier, man muss vielleicht von hier gekommen sein, um das alles schön und gut zu finden, aber wenn man es kennt und wenn man Leute kennt, ist das eine wunderschöne Sache und macht Spaß."
Die Scheune nebenan wird bewohnt von rostbraunen, langhörnigen Rindern. Unsere Scheune wird beherrscht von einem circa vier Meter hohen rosaroten Elefanten mit großen Kulleraugen. Auf seinem Rücken gibt es einen verdeckten Hochsitz, auf dem Prinz Schröder gestanden und Süßigkeiten über das Volk verstreut hat.
"Also, ich bin bei der Continental in Korbach am Arbeiten, bin da zuständig für den Einkauf von Fahrrad- und Motorradreifen und da kriegen wir auch einiges aus Asien dabei. Deswegen bin ich relativ viel in Asien unterwegs und Indien speziell - und das Motiv von dem Wagen hat schon meistens mit dem Prinzen irgendwie was zu tun - und dann hatten wir was schönes Buntes überlegt und dann die Idee, einen schönen Elefanten zu bauen."
Ein Pausenraum mit explosiven Kunstwerken
Es gibt eine kleine Kammer am Ende der Scheune, den Pausenraum, den jede Werkstatt braucht, in der hart gearbeitet wird. In der Ecke steht eine Eckbank, dahinter eine Batterie von Flaschen, die harten Alkohol enthalten oder enthielten, davor ein langer Tisch und an den Wänden Poster mit Darstellungen weiblicher Körper, die - sagen wir mal - recht anatomisch gehalten sind. In der gegenwärtigen Debatte sind diese Bilder pures Dynamit.
Der Karnevalsverein zählt circa 200 Mitglieder. Sie organisieren den Wagenzug zu Karneval, der geschätzt von einem Ortsende bis zum anderen gereicht hat. Jeweils am Ortsende, so erfahre ich, wurde die Straße durch einen LKW oder etwas Großes gesperrt. Eine Auflage der Behörden. Die Männer mit dem rosa Elefanten hatten Schwierigkeiten, sich einen muslimischen Attentäter in Giershagen vorzustellen - aber die Zeiten sind wohl so, dass von Postern und Attentätern unberechenbare Gefahren ausgehen. Prinz Schröder ficht das nicht an.
"Aber alleine der Wagen ist schon topp und wenn ich dann oben drin stehe, ist er noch schöner. Ist schon wunderbar dann. Ist eine Augenweide."
Am Ende des Abends räumen wir ein paar leere Bierkästen in Stefan Henkes Lieferwagen und fahren in die kalte Nacht hinaus.
Tante Emma schlägt zurück
Am nächsten Morgen stehen in Stefan Henkes Edeka-Laden zwei Vertreter der Volksbank. Die Volksbank hat ihren Standort in Giershagen geräumt, nun wird Stefan Henke in seinem Laden das Geld auszahlen. Es verkündet die Vertreterin der Volksbank:
"Herr Henke hier mit seinem Edeka-Markt in Giershagen bietet seinen Kunden schon seit längerem das Bezahlen mit der EC-Karte an. Dieses wurde jetzt aktuell erweitert, die Kunden können sich jetzt auch mit Bargeld bei Herrn Henke am Terminal versorgen. Die Bargeldversorgung ist darüber gesichert in Giershagen."
An dem großen Fenster der Versorgungseinrichtung und auch auf Stefan Henkes Jacke prangt sein Wahlspruch "Tante Emma schlägt zurück". Der Edeka-Laden ist der einzige Nahversorger in Giershagen und der näheren Umgebung. Gäbe es ihn nicht, müsste man für jeden Joghurt nach Marsberg.
Der Metzger trifft ein mit einer großen Plastikwanne. Im hinteren Teil des Ladens gibt es einen abgetrennten Tresen mit Kühltheke, dort verstaut er das Fleisch und die Würste. Der Schlachter schlachtet noch selbst, die Fleischwaren kommen nicht aus der Fabrik oder dem Großhandel. Über den Laden, in dem Tante Emma zurückschlägt, nimmt der Fleischer auch Bestellungen entgegen. Dann kommt das Kotelett frisch vom Schwein.
Tante Emma in Gestalt von Stefan Henke kennt die Kunden aus den täglichen Gesprächen. Und die Kunden kennen Stefan Henke - wo sonst könnte in den frühen Morgenstunden, noch bevor es der Gesetzgeber erlaubt, der Lieferwagen die tägliche Ware anliefern? In meiner Stadt gäbe es sofort Ärger, in Giershagen dagegen ist den Leuten klar, dass irgendwann irgendwie die Lebensmittel, das Duschgel, die Schreibwaren und auch die Briefmarken in den Ort kommen müssen.
"Die Nahversorgung, das ist ganz klar, viele andere Ortschaften haben schon gar kein Lebensmittelgeschäft mehr, die wären alle froh, wenn sie eines hätten, und das ist einfach ein Kommunikationstreffpunkt, das darf man auch nicht vergessen, dass sich hier viele Leute einfach treffen und zusammenkommen, um was auszutauschen. Das ist in vielen Ortschaften nicht mehr gegeben."
Architektonisch ein wilder Haufen
Giershagen, circa 1.600 Einwohner, liegt mit seinem ursprünglichen Ortskern in einer Senke. Da ist es relativ windstill. Die neueren Ansiedlungen auf den Hügelkuppen haben zwar den schönen Fernblick, haben dafür aber auch Kyrill und Friederike im Garten. Giershagen wird durchzogen von einer gewundenen Straße, der Papenstraße. Sie ist benannt nach Heinrich Papen, einem Bildhauer aus dem 17. Jahrhundert, der aus Giershagen stammte und eine Reihe bedeutender Altäre geschaffen hat.
Architektonisch macht das Dorf einen sehr unentschiedenen Eindruck. Die Häuser entstammen unterschiedlichen Bau- und Renovierungsperioden der Nachkriegszeit und sind nicht auf einander abgestimmt. Freundlich gesagt. Genauer genommen: ein wilder Haufen.
Stefan Henke ist Mitglied im Förderverein Giershagen. Der Verein hat sich zum Ziel gesetzt, den Ort lebendig zu halten. Eigentlich müsste man für Giershagen keinen neuen Verein erfinden. Es gibt den Karnevalsverein, den Musikverein, den Sportverein, einen katholischen Frauenverein und wahrscheinlich habe ich noch einen vergessen. Wer in einem Verein ist, ist meist auch noch in ein oder zwei anderen. Zum Beispiel im Gesangsverein, den hatte ich noch nicht genannt. Man fragt sich, wann die Leute Fernsehen gucken.
Vereine gab es also genug, was fehlte, war eine Ideenschmiede. Zu einer Bürgerversammlung der Ideenschmiede im Jahr 2016 kamen ungefähr 40 Interessenten. Mit dabei war Beate Wallmeier. Wir sitzen in ihrem Wohnzimmer, der Kaffeetisch ist schon gedeckt, als ich eintrete.
"Und dann hatten wir einen sehr lustigen, feuchtfröhlichen Abend, der war wirklich sehr lustig, weil wir durften Ideen spinnen. Jeder durfte irgendwas sagen, was er sich für das Dorf wünscht, egal ob das machbar ist oder nicht. Zugegebenermaßen haben wir uns gut einen dabei getrunken, das war sehr lustig, aber bei mir ist das so hängen geblieben. Man könnte irgendwas machen."
Hier wären einige Positionen von der Vorschlagsliste: Mehrgenerationenhäuser oder eine Alten-WG, dann noch Vereinspatenschaften für Flurbezirke und Bänke, ferner eine Tauschbörse für Aktivitäten; es sollte einen Geschichtsthemenweg durch das Dorf und einen Klettergarten für Junge und Ältere geben, was vielleicht mit der Alten-WG zu kombinieren wäre. Ein Vorschlag lautete: Tischnachbarn. Tischnachbarn, das sind Leute "die zusammengewürfelt wie auch immer, treffen sich bei jemandem privat zu Hause. Und dies privat zu Hause war mir wichtig, weil das so ein bisschen eine Verpflichtung auch ist."
Zentrale Zeiteinheit: Zwischen Ostern und Schützenfest
Frau Wallmeier, im Berufsleben Lehrerin, schrieb ein Faltblatt, auf dem die Idee dargestellt wurde. Jeweils drei "Tischnachbarn"- Paare, Einzelpersonen, Familien - also minimal drei und maximal sechs Personen, treffen sich reihum an drei Terminen zwischen Ostern und Schützenfest 2017. Bei der Gelegenheit wird mir als Besucher auch klar, was die entscheidenden Termine im Jahreskalender eines Dorfes sind. Wer diese drei bis sechs Personen sind, die sich drei Mal treffen, entscheidet das Los.
"Ja, ganz am Anfang, bei der ersten Werbeaktion haben viele gesagt, oh ja, tolle Idee, machen wir mit. Haben dann wohl überlegt: Oh je, was könnte passieren? Wer könnte vielleicht in meine Wohnung kommen? Und haben sich nicht angemeldet. Aber es hat mir zum Beispiel eine Person gesagt: Dann könnte ja mein Feind in die Wohnung kommen. Und ich hab gesagt: Bist du noch gescheit? Hast du Feinde? Hab ich gar nicht gewusst, dass du Feinde hast. Es gab wohl zum Teil wirklich die Sorge, es könnte jemand kommen, den man gar nicht haben möchte. Eine Person hat mir gesagt, da ging es darum, kannst doch mitmachen: Ne! Ich sag: warum nicht? - Ja, wenn es einmal wäre, dann ja, aber nicht bei dreimal."
Die größten Probleme ergaben sich bei der Auswahl der Termine, an denen die Treffen stattfinden sollten. Ganz offenbar stehen Dorfbewohner unter Zeitstress. Aber die dreißig bis vierzig Giershagener, die mitgemacht haben, lernten Mitbewohner kennen, denen sie bis dahin gerade mal auf der Straße zugenickt hatten. Es war eine Idee, die ankam im Dorf.
"Ich weiß nicht, ob es die doppelte Menge sein wird, aber ich glaube schon, dass es mehr sein werden, weil die Resonanz ziemlich positiv war und ich glaub auch, dass das was bringt. Bin ich fest von überzeugt."
Daraus seien nicht zwingend unverbrüchliche Freundschaften für die Ewigkeit entstanden, sagt Beate Wallmeier, aber man kenne jetzt sein Dorf besser.
"Übrigens hat schon einer vorgeschlagen vom Kolpingverein aus einem anderen Ort und hat gesagt: Oh! Das konnten wir ja schließlich auch mal machen. Also das hat dann schon auch auf Interesse gestoßen."
"Killefitt" und "Mauken im Bruggepott"
Jede Region hat so ihre eigene Sprache. Oder zumindest ortsübliche Begriffe. Das ist auch so in Giershagen und drumrum. Manche Wendungen decken sich mit überregionalem Allgemeingut. Wenn es heißt: "das Gesocks göbelt" - dann verstehen auch gebildete Nicht-Sauerländer, dass sich das Prollvolk gerade oral entleert. Und wenn selbiges anschließend die "Hucke voll" kriegt, freut sich jeder über eine pädagogisch wertvolle Maßnahme. Das geht noch klar.
Aber "Foffo"? Oder "Bölzer"? Oder "Killefitt"?
Ein Bölzer ist ein dicker Kater, Foffo bedeutet Geschwindigkeit und Killefitt ist Kleinkram. Vorsichtshalber haben sie in Giershagen ein Lexikon der hiesigen Stammessprache als großformatiges Poster herausgebracht. So sollen eigenartige Ausdrücke für nachfolgende Generationen erhalten bleiben. Dem Besucher bietet die Liste bodenständiger Vokabeln die Chance, sich nach Art der Feldforscher der lokalen Bevölkerung in ihrem eigenen Idiom zu nähern.
Ein Beispiel:
"Also liebe Freunde, der Fickeltünnes ist mit Schmakkes und den Mauken in den Bruggepott geraten. Das kam vom Juchtern, weil er gedacht hat, er kriegt die Pimpanellen, wo ihm doch das Hümmeken in die heiße Plörre gefallen ist. Und dann hat er vor sich hingeankt, dass ihm die Kölpen aus dem Gesicht gequollen sind."
Ich als Besucher bin mir fast sicher, dass ich mit so einer kleinen, unterhaltsamen Geschichte leicht mit den Leuten ins Gespräch komme. Für diejenigen, die mit der hochsauerländischen Mundart nicht vertraut sind, hier die Auflösung:
Der Fikkeltünnes ist der heilige Anton, also der Tünnes. Der heilige Tünnes ist der Dorfpatron von Giershagen. Meist wird er zusammen mit Schweinen dargestellt, also Ferkeln, also Fikkel, also: Fikkeltünnes. Der Fikkeltünnes hat mit Schmackes, also Wucht, seine Mauken, also Füße, in den Bruggepott getaucht, also einen ortsfesten Ofen mit großem Behälter, um Wurst zu brühen oder Badewasser zu erwärmen. Über die Reihenfolge macht das Lexikon keine Angaben.
Aber warum steht Fikkeltünnes mit den Mauken im Bruggepott? Weil er gejuchtet hat, also rumgesprungen ist, denn er hat die Pimpanellen gekriegt, also sich aufgeregt, weil ihm das Hümmeken, also das kleine Schälmesser, in die heiße Plörre, also Brühe, gefallen ist. Woraus man schließen kann, dass der Heilige eben dabei war, im Bruggepott Schweinewurst zu machen. Dann entglitt ihm das Messer. Und er regte sich auf. Nun steht er mit den heißen Mauken in der dampfenden Plörre und muss anken, also jammern, so sehr, dass ihm die Kölpen, also die Augen, aus dem Kopf quellen. So geht Giershagenerisch.
"Kappes" oder "Kruppzeuch" oder "Männekes"
Diese Geschichte ist natürlich nicht Bestandteil der volkstümlichen Überlieferung, sondern von mir frei erfunden und daher lediglich "Kappes" oder "Kruppzeuch" oder einfach nur "Männekes". Und überhaupt - man kann mit den Leuten gut Hochdeutsch reden.
Giershagen hat eine tausendjährige Bergbaugeschichte. Mit unterschiedlicher Intensität sind in den Gruben um Giershagen bis 1963 Eisen, Kupfer und Cölestin abgebaut worden. Eisen und Kupfer kennt man, Cölestin ist ein Mineral, das zum Beispiel benutzt wurde, um aus Rüben Zucker zu gewinnen. Josef Götte ist einer der wenigen noch lebenden Bergleute, die um Giershagen in die Gruben eingefahren sind.
"Sehr harte Arbeit! Ich hab ja eben erwähnt, dass ich 1951 angefangen hab, da war ich gerade 14 Jahre und wog 36 Kilo. Hab ich auf der Grube angefangen. Und mit 16 Jahren wurden wir als Lehrling und als Lehrhauer dann auf den Abbau bei einem abbauführenden Hauer, kamen wir dann. Und das war schon mehr als hart, können Sie sich vorstellen."
In zwei Schichten zu je acht Stunden wurde gearbeitet. Der Bergbau war in der kargen Zeit nach dem Krieg attraktiv, weil hier schon in der Ausbildung gutes Geld verdient wurde, das Josef Göttes Familie mit sechs Kindern dringend brauchte. Ich höre Josef Götte zu und sehe ihn, wie er spricht und mir scheint, dass ich noch den Schrecken erkennen kann, den die Arbeit damals für den mageren Vierzehnjährigen bedeutet haben muss.
"Gerne zurück denkt man nicht. Es war unheimlich schwer, besonders wenn man diese wenigen körperlichen Voraussetzungen hatte. Aber Spaß gemacht hat es, weil das so abwechslungsreich ist."
Josef Götte sagt in einem Halbsatz, dass man, wenn man morgens zur Arbeit ging, nicht sicher sein konnte, ob man abends nach Hause kam. Auf dem Vorplatz der Kirche steht ein Findling mit einer Metalltafel, auf der die Toten verzeichnet sind, die der Bergbau in Giershagen zu beklagen hatte. Die Liste ist lang und endet mit dem Namen Henke, dem Großvater von Stefan Henke. Um sich gegenseitig zu unterstützen und um einen beruflichen und sozialen Zusammenhalt zu pflegen, gab es wie in eigentlich allen Bergbauregionen einen Knappenverein. Mit dem Ende des Bergbaus schrumpfte auch der Knappenverein. Nach und nach starben die Bergleute, eines Tages waren nur noch fünf oder sechs übrig. Was tun? Es wurde eine Versammlung einberufen.
"Und wir waren an dem Abend so überrascht, da sind an dem Abend 19 in den Verein eingetreten und 17 wollten auch den Bergmannskittel tragen und das war ja für uns das Wichtigste, die Außenerscheinung, das ist ja das Wichtigste bei einem Verein und ohne den Bergmannskittel war das ja sinnlos."
Die Giershagener konnten sich nicht entschließen, einen traditionsreichen Verein einfach sterben zu lassen. Vielleicht gibt es im Dorfleben so etwas wie eine Sucht nach Vereinsgeselligkeit, die dem Großstadtbewohner, der sich mit einer Mitgliedschaft gut ausgefüllt findet, eher fremd ist. Aber es gab noch einen anderen Grund: Fast jeder im Dorf hat in der eigenen Familie oder der Verwandtschaft einen, der mal im Bergbau gearbeitet hat. Also wurden 19 Nicht-Bergleute zu Knappen.
Ohnmacht und Tränen um den Knappenverein
"Ich war an dem Abend so überrascht, ich hab abgebaut, ich wusste auf einmal nicht mehr." – Josef Götte, der bei der Versammlung auf dem Podium saß, wurde im Wortsinn von seinen Gefühlen überwältigt. Er verlor das Bewusstsein und musste ins Krankenhaus. "Und da kam der Sohn und das war nachts um zwölf da kam der Sohn ins Krankenhaus und sagt: Papa, 19 neue Mitglieder. Und 17 wollen die Kittel tragen. Und das war - das war die größte Freude." Joseph Götte stehen bei der Erinnerung an diesen Abend die Tränen in den Augen.
Ein Ort, der Zukunft haben will, muss seine Vergangenheit kennen. Um die Bergbaugeschichte lebendig zu halten, haben Reinhard Schandelle und der Förderverein einen Wanderweg in den Hochsauerland-Wäldern um Giershagen aufgebaut. Reinhard Schandelle ist ehemaliger Lehrer und ehemaliger Bürgermeister von Marsberg, also ein erfahrener Kommunalpolitiker.
"Ja, wir stehen hier an der Station der Rhene-Diemetalbahn. In der Wiese erkennt man noch den alten Bahndamm. Die Bahn ist gebaut worden als Anschlussbahn an die Reichsbahn. Der Bahnhof war in Bredelar und von Bredelar aus wurde eine Schmalspurbahn bis zur Grube Christiane in Adorf gelegt, elf Kilometer, und an diese Bahn waren vier Gruben angeschlossen, mit denen das Erz dann mit dieser Kleinbahn und der Reichsbahn in das Ruhrgebiet zu den Hütten transportiert worden ist."
"Bergbauspuren" heißt der Themenweg und in der Tat sind es keine massiven Bauten, die in der ehemaligen Bergbaulandschaft stehen, sondern meist nur Geländepunkte, die einem gar nicht auffallen würden, wenn es nicht Führungen gäbe und Hinweistafeln. Die Trasse der Rhene-Diemeltalbahn könnte man vielleicht für einen Damm an der Diemel halten - wenn man es nicht besser gesagt bekäme. Umso wichtiger ist es, dass diese unscheinbaren Spuren der Vergangenheit aufbereitet und erhalten werden, wie diese Bahn, die 1963 nach dem Ende der Förderung abgebaut wurde.
"Wir stehen gerade im Stollenmund des Lans-Stollens, das ist der tiefste Stollen der ehemaligen Grube Reinhard, und das Plätschern verrät, dieser Stollen diente der Entwässerung des Grubenbaus, aber auch dem Transport des Eisens. Von dem Grubenfeld, das ungefähr 800 Meter entfernt liegt, wurde das Eisenerz auf Loren mit Pferden bis hier unten hingefahren und dann auf die Grubenbahn verladen."
Die Lore steht noch auf Gleisen, eine von den Loren, die der schmächtige Joseph Götte mit 14 Jahren geschoben haben muss. Was für eine grausame Arbeit. Wir gönnen uns einen nachdenklichen Moment. Reinhard Schandelle hat auf seinem Smartphone das Steigerlied, das sich in das Rauschen des Bergwassers mischt.
Das Dorf, als in Klinker gemauerte Langeweile
Vielen Menschen erscheint das Dorf, jegliches Dorf, als in Klinker gemauerte Langeweile. Hunde bellen. Trecker tuckern. Menschen tragen unelegante Kleidung. Spießer fegen Bürgersteige. Sonst ist nichts los: es gibt keine Kinos, keine Lokale, keine Kultur, wenn man welche möchte.
Mit Reinhard Schandelle sitze ich auf einem Sofa und lausche seiner leidenschaftlichen Gegenrede.
"Und dann ich immer: Wie oft nutzt ihr die denn? Wie oft wart ihr im Kino? Wie oft wart ihr in einem Konzert? Welche Angebote habt ihr denn im letzten Monat so genutzt? Und dann guck ich immer in sehr fragende Gesichter und ich bin sehr enttäuscht, weil sie mir nichts nennen können. Und dann erzähle ich denen, wo ich alles war, auf welchen Veranstaltungen ich gewesen bin. Zwar nicht hier bei uns in Giershagen, sondern in der weiteren oder näheren Nachbarschaft und was hier alles an Angeboten da ist, die man auch wahrnehmen kann, wenn man mobil ist, und dann staunen die immer,- und dann versuch ich noch immer zu argumentieren, welche anderen Vorteile denn das Dorf so mit sich bringt: Ich steh nicht dauernd im Stau, sondern ich hab so gut wie keinen Stau, Wohneigentum ist sehr günstig zu erwerben, und all diese Vorteile verfangen aber leider nicht. Das wundert mich schon ein wenig, aber das scheint eher psychologische Ursachen zu haben als faktische."
Recht hat er! Aber so einfach ist es mit dem Stadt-Landvergleich dann auch wieder nicht.
In Giershagen finde ich kein Lokal, in dem ich essen kann. Wenn es Freitag oder Samstag oder Sonntag wäre, könnte ich im "Dorfkrug" essen, nicht aber am Dienstag, denn das einzige Lokal hat nur am Wochenende geöffnet. Mein Übernachtungshotel habe ich fünf Kilometer entfernt in Adorf gefunden, was ein properes Dorf ist mit fein renovierten Fachwerkhäusern und einer langen Hauptstraße. In Adorf stelle ich fest, dass beide Lokale den Dienstag als ihren Ruhetag gewählt haben. Nur eine Steh-Pizzeria ist geöffnet. So wenig Hunger habe ich nicht.
Meine gastronomischen Alternativen sind also Marsberg im Norden und ein Platz namens Heringhausen im Süden. Von Giershagen sind das ungefähr zwölf Kilometer, die ich fahren muss, um eine warme Mahlzeit zu bekommen. Da bin ich als Großstädter natürlich auf kürzeren Distanzen erfolgreich.
Die Schwierigkeit, eine warme Mahlzeit zu bekommen, hat mich aber auf ein drängendes Problem aufmerksam gemacht. Mein Tank ist nur noch ein Viertel voll. Kann ich es mir leisten, durch das Hochsauerland zu fahren, ohne zu wissen, wie weit ich komme? Oder muss ich perspektivisch tanken? Ich erkundige mich am Restauranttresen: Mir werden zwei Tankstellen in zwanzig Kilometern Entfernung genannt. Aber dann bin ich schon tief in Hessen. Ich muss aber in die Gegenrichtung. Also fahre ich sofort und straight 16 Kilometer nach Marsberg, vergeude keinen Tropfen, und sehe zu, dass ich erst mal den Tank voll kriege.
Dann wieder fünfzehn Kilometer zurück, um ins Bett zu kommen.
Da hätte ich in Berlin schon andere Möglichkeiten. Und vom Kino war noch gar nicht die Rede.
Das Stadtmöbel "Mitfahrbank"
Eine Idee aus dem Förderverein klingt besonders witzig: Es handelt sich um die sogenannte "Mitfahrbank". Zwei dieser Bänke sind an der Papenstraße, der zentrale Achse durch Giershagen, aufgestellt. Im Westen und im Osten stehen sie am Ortsausgang. Jeweils wenn die Straße den Ort verlässt, steht dort eine Mitfahrbank.
Ich sitze mit Heiner Götte, Rentner, auf der buntbemalten Bank an der Papenstraße. Noch liegt Schnee.
"Und dann irgendwo muss ja einer sein, der die Sache in die Hand nimmt und ich hatte diese glückliche Aufgabe, die Mitfahrbank mit zu organisieren. Und dann ging das los, einmal mussten wir Standorte finden, wo machen wir die hin?"
Das Stadtmöbel "Mitfahrbank" besteht aus einer quirlig bunt betupften Gartenbank und einem Schild, das ihre Funktion erläutert. Ich lese nicht, ich höre zu:
"Diese Straße führt nach Bredelar und Marsberg. Da wir im Ort keinen Doktor mehr haben, fahren viele Giershagener nach Bredelar zum Doktor. Aber alle haben auch kein Auto. Und somit müssen sie sehen, dass sie nach Bredelar kommen. Und wir haben damit die Idee gehabt, wir machen eine Mitfahrbank. Wenn sich hier jemand hinsetzt, will er nach Bredelar zum Doktor, oder auch zum Einkaufen, was wir ja nicht so ganz so gerne sehen, weil wir ja unseren eigenen Lebensmittelladen hier im Ort haben. Kann er sich hier hinsetzen, und wenn hier die Autofahrerr heranfahren - diese Straße ist ja immer gut besetzt mit PKWs - können die anhalten und mitnehmen und somit kommen die zu ihrem Ort, wo sie hinmöchten."
In den Orten, zu denen man möchte, also Bredelar oder Marsberg, stehen ebenfalls bunte Mitfahrbänke, sodass man später auch wieder nach Hause kommt. Wir es viel genutzt?
"Ich muss da leider und ehrlich sagen, sehr oft wird sie nicht genutzt. Also ich habe vielleicht, wenn ich das gesehen habe, dass dreimal jemand hier gesessen hat und auf einmal war er weg."
Aber irgendwie hat das Ganze doch einen positiven Effekt gehabt.
"Auf jeden Fall! Ich bin angerufen worden sogar von Nachbargemeinden und die haben gesagt: Kerl, komm doch nach uns auch mal hin und mach doch auch mal sowas."
Wie um Heiner Göttes Wort Lügen zu strafen, hält ein Wagen. "Wollt ihr mitfahren?" werden wir gefragt. Auf diese Weise wären wir vermutlich zum Kloster Bredelar gekommen, was reizvoll wäre, aber wir verlassen Schnee und Bank und gehen ins Haus, um uns aufzuwärmen.
Jeder beobachtet jeden. Dann wird geredet.
Das Dorf, sagen die, die es nicht mögen, ist zu eng. Jeder beobachtet jeden. Dann wird geredet.
So sei es schon lange nicht mehr, sagt Reinhard Schandelle, auch auf dem Land seien die Menschen viel toleranter geworden und kommentierten nicht mehr alles, was sie sehen. Auf der anderen Seite: Wenn bei ihm jemand im Garten steht, der dort nicht hingehört, wird es dem Nachbarn nicht verborgen bleiben. So lebe man doch sicherer.
Aber gerade, als mir die Vorurteile ausgehen, erzählt man mir - ich sage nicht wer! - von der anderen Form der Nachbarschaft, nämlich von der Frau, die mit dem Feldstecher unter der Gardine hinweg die Nachbarn im Auge behält. Dankbar notiere ich diese Information in mein Notizbuch, weil sie meine großurbanen Vorurteile mit neuem Brennstoff versorgt. Noch habe ich nicht verloren.
Zu den Lebensgewohnheiten der Hochsauerländer scheint zu gehören, dass sie mit Brennmaterial geizen. Vielleicht hat aber auch der Hochsauerländer kein Kälteempfinden, anders als der Bewohner großer Städte, wo sogar die Hausflure von Mietshäusern beheizt werden. Jedenfalls ist mir durchgängig kalt und ich bin froh, dass ich am Abend noch Volker Schröder besuchen werde, der Karnevalsprinz ist und Mitarbeiter der Ideenschmiede. Volker Schröder hat drei Kinder, bei ihm wird ja wohl geheizt sein, denke ich. Volker Schröders Idee für die Ideenschmiede war ein Spiel, ein Brettspiel. Ein Brettspiel mit Lerneffekt: Ziel ist es, die Erinnerung an die alten Flurnamen zu bewahren.
"Giershagen ist ja schon ein sehr altes Dorf, das von bäuerlicher Kultur geprägt worden ist, und da hatten wir uns einen Namen für das Spiel überlegt, klar, Giershagen sollte rein und Bauernfehde aus dem Grund, weil es sich darum dreht, die verschiedenen Wiesen, die Gemarkungen, die Flächen - ich nenn es jetzt mal zu erobern - für die Bauern zugänglich zu machen, dass die sich die einzelnen Felder gegenseitig abkaufen oder zu erobern und damit der größte Bauer von Giershagen zu werden und damit das Spiel zu gewinnen."
"Wie spielt man das?"
"Es gibt diese Spielfläche, wo die ganzen Gemarkungen aufgezeichnet sind, aufgeteilt in ein paar größere Gebieten noch mal."
"Also die Aufzeichnung ist diese alte Karte von 1888?"
"Wir mussten die anpassen, also die Basis ist diese Karte, ja, aber wir mussten das zusammenfassen, und wir haben das so aufgeteilt, dass das in vernünftigem Rahmen mit am besten vier, fünf oder auch sechs Mann spielbar ist."
"Ich sehe verschiedene Flächen, die sind blau unterlegt, Flächen, die sind rot unterlegt, grün unterlegt, in der Mitte das Dorf selbst ist grau unterlegt."
Die Sache ist heikel: So einfach ist ein Brettspiel nicht. Zwar erinnert es mich ein wenig an das "Monopoly" meiner Kindheit, aber es gibt andere Regeln zu beachten und andere Abläufe. Man muss strategisch vorausdenken und sich entscheiden, welche Wiese man sich zu welchem in der Ferne liegenden Zweck unter den Nagel reißen will und wie man den Nachbarn um seine Kühe bringt. Für mich am späten Abend zu kompliziert. Ich gebe auf. Aber immerhin ist mir jetzt warm.
Vereine - für jeden das seine
Am folgenden Abend treffe ich Michael Volpers. Er wohnt am Ortsrand von Giershagen. Hier übt er Posaune und Baritonhorn. Das kann er auch, rundum stehen nur wenige Häuser, und die Felder liegen im Dunkeln. Aber nicht nur deshalb.
"Die Familie, die unter uns wohnt, von vier Leuten sind drei im Musikverein. Ist jetzt selten, dass wir hier zuhause zusammen üben, aber es kommt schon öfters vor, dass wir von unten was hören und andersrum natürlich auch, dass die von uns hier oben was hören, aber dadurch, dass es beiderseitig ist, kommt man damit ganz gut klar."
Michael Volpers, ein junger Mann mit Vollbart, leitet den Musikverein.
"Wir haben so ungefähr 60 bis 70 Aktive im Orchester, dann im Nachwuchs sind es noch mal um die zwanzig, die jetzt noch nicht im großen Orchester mitspielen. Und dann haben wir als Verein noch fördernde Mitglieder, das sind zweihundert, also insgesamt hat der Verein 300 Mitglieder."
Noch einmal zur Erinnerung: Giershagen hat gerade einmal 1.600 Einwohner. Allein 300 von ihnen sind Mitglied im Musikverein. Gespielt wird, sagt Michael Volpers, das Brot-und-Butterprogramm eines jeden Blasorchesters: Märsche für Schützenfeste und den Karneval.
"Märsche, Armeemärsche, teilweise auch Standmärsche, Konzertmärsche, ganz bekannte sind natürlich Petersburger, Torgauer."
Abgesehen von relativ schlichter Ich-marschier-mal-auf-und-ab-Musik gibt es noch ein erweitertes Repertoire:
"Wir machen auf Schützenfesten dann auch Tanzmusik, dass wir abends dann in einer kleinen Besetzung spielen, dann natürlich nicht nur mit Bläsern, sondern auch Keyboard, Bassgitarre, Gitarre, und komplettes Schlagzeug dann natürlich dabei, und Gesang eben auch."
Damit ist der musikalische Ehrgeiz aber auch noch nicht befriedigt.
"Und was für uns selber vom Musikalischen her der Höhepunkt ist im Jahr, das ist immer das Jahreskonzert, das haben wir immer Anfang November und da spielen wir dann richtige Konzertstücke, also von Musicalmusik über Filmmusik über klassische Musik oder auch mal ne Polka - das ist dann bunt gemischt."
Michael Volpers ist Mathematiker und arbeitet im Computerbereich. Jeden Tag fährt er eineinhalb Stunden nach Paderborn zur Arbeit, abends zurück. Zwölf Jahre war er weg aus Giershagen, aber dann zog es ihn doch wieder nach Hause. Seit nahezu einhundert Jahren ist der Musikverein, den Michael Volpers leitet, fester Bestandteil des Kulturlebens von Giershagen. Wie, frage ich mich, kann man den Nachwuchs, also Kinder, für Blechblasmusik begeistern? Wo es doch so viel anderes gibt.
"Wir merken allerdings schon, das muss man schon sagen, gerade bei den Jüngeren, es gibt immer mehr Angebote, sei es durch Sportvereine oder auch Reiten, machen viele gerade jüngere Mädels, oder Schwimmverein, das sind halt so Sachen, und auch durch die Ganztagsschulen, dadurch ist auch weniger Zeit, und das merkt man schon. Aber ich glaube trotzdem, dass wir da ganz gut aufgestellt sind und auch in Zukunft weiter Möglichkeiten haben, Nachwuchs zu werben und zu kriegen und zu binden auch."
Schwimmen und Reiten statt "Rumlungern im Cyberspace"
Ich überlege still für mich, dass ich eigentlich an anderes gedacht hatte, was die Kinder vom Üben abhalten könnte: An Glotze, Videospiele, Smartphones und Rumlungern im Cyberspace. Aber nein, die Konkurrenz sind die Angebote anderer Vereine. Was für ein glücklicher Ort! Und laut frage ich:
"Ich habe gelernt, dass man in Giershagen immer in mehreren Vereinen ist. Mit ihrer Stimme sind Sie vermutlich auch im Gesangsverein?"
"Nein, im Gesangsverein bin ich nicht, das ist wirklich einer der Vereine, wo ich nicht drin bin, das ist für mich eher was, wenn ich nicht mehr mobil genug bin, um Musik zu machen, also das Marschieren und so nicht mehr so kann, dann würd ich eher den Gesangsverein für mich sehen."
Das wird der Gesangsverein nicht so gern hören, überlege ich wieder still für mich.
Die Frage vom Anfang meiner Reise "Warum Giershagen?" kann ich immer noch nicht beantworten. Als ich das Dorf verlasse, liegt kaum noch Schnee. Aber es ist immer noch kalt. Auf der Autobahn Richtung Berlin geht mir durch den Kopf, dass so ein kleiner Ort wie Giershagen vielleicht den menschlichen Vorteil hat, dass die Leute den kennen, der etwas gemacht hat. In Großstädten stehen die Dinge einfach da - Bänke, Parkanlagen, Denkmäler und Opernhäuser, aber man weiß nicht, wer sie geschaffen hat. Natürlich weiß man: den Flughafen Schönefeld, den hat der Wowereit versemmelt. Aber wer noch? Da waren doch noch andere zweifelhafte Genies beteiligt.
Und schon verschwimmt wieder alles. Mir scheint, wenn man weiß, welchem der Vorfahren oder noch lebenden Zeitgenossen man die Dinge in seiner Umgebung zu verdanken hat - den Weg zu den Bergbauspuren, den Abend mit Gästen, die Bank zum Mitfahren - , dann hat man eine andere Verbindung zu ihnen und dann - im günstigsten Fall - weiß man sie auch mehr zu schätzen. So lebt man besser in einem Dorf.
Es kann aber auch sein, dass einem das zu viel wird, dass man so viel gar nicht wissen will. Dann lebt man besser anonym in der Großstadt. Ich persönlich wäre noch nicht bereit für das Dorfleben. Obwohl ich sagen muss: Die Leute da sind beneidenswert angenehm.