Warum Babys nicht vorschnell zu Pflanzen greifen
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Kleinkinder zögern beim Berühren von Pflanzen – und zwar viel länger als bei anderen Gegenständen. Vor Messerattrappen haben sie gar keine Scheu. Das ist genetisch veranlagt, haben Forscher nachgewiesen. Doch ihre Erkenntnisse sind noch viel weitreichender.
Der Sound unseres Alltags ist grau: Städte, Straßen und Asphalt prägen unser Umfeld. Die Natur spielt heute vor allem in unserer Freizeit eine Rolle. In der Geschichte der Menschheit ist das eine neue Entwicklung: Unsere Vorfahren machten vor rund zwei Millionen Jahren ihre ersten Schritte auf zwei Beinen jedenfalls nicht auf Asphalt.
Der Ort, wo der Mensch zum Mensch geworden ist, war einer, in dem die Natur die Herrschaft über uns hatte. Und das hat uns geprägt. Denn die ersten Landpflanzen lassen sich etwa vor 450 Millionen Jahren auf der Erde nachweisen.
"Sie sind also schon viel, viel länger hier als wir. Nach aktuellen Schätzungen machen Pflanzen an die 80 Prozent der Biomasse auf der Erde aus. Sie sind also überall."
Das ist Annie Wertz vom Berliner Max-Planck-Institut für Bildungsforschung. Die Psychologin sucht nach Spuren, die Millionen Jahre des Zusammenlebens mit Pflanzen in der menschlichen Natur hinterlassen haben.
Und die größten Indizien für diese Spuren vermutet sie im Verhalten von Kleinkindern.
Ava entdeckt gerade das Krabbeln für sich. Damit tut sich für sie ein ganz neuer Horizont auf. Und damit neue Risiken. Die nächste Gefahr ist nie weit entfernt – heute vielleicht eine Steckdose. Für Avas Vorfahrin in einer prähistorischen Siedlung eine giftige Beere.
Kinder sind gegen Gefahr von Pflanzen gewappnet
Gemeinhin geht man erst mal davon aus, dass Kinder alles anfassen und alles in den Mund nehmen. Dieser Annahme widerspricht Annie Wertz. Kinder sind gegen die Gefahr, die von Pflanzen ausgeht, gewappnet.
"Die Annahme ist folgende: Du bist ein Baby und triffst auf eine Pflanze. Das erste was du tust, ist innehalten. Dann schaust du, ob Erwachsene in der Nähe sind. Also du stoppst und schaust, was du machen sollst. Wenn niemand eingreift, dann berührst du die Pflanze vielleicht."
Kleinkinder zögern beim Berühren von Pflanzen – und zwar viel länger als bei anderen Gegenständen. Das konnte Annie Wertz mit ihrem Team in einer Reihe von Experimenten zeigen.
Sie zeigten in zufälliger Reihenfolge Probanden im Alter von 8 bis 18 Monaten kleine Topfpflanzen und eine Reihe anderer harmloser Gegenstände. Dabei maßen die Forschenden das Zögern der Babys, bis sie den Gegenstand berührten.
Bei Pflanzen dauerte es im Schnitt fast sieben Sekunden. Doppelt so lange, wie wenn ein Baby etwa nach einem Kochlöffel griff. Auch gefährliche Gegenstände weckten die Neugier schnell – etwa die Attrappe eines scharfen Messers. Vor dem hatten die Babys überhaupt keine Scheu.
"Babys greifen sehr schnell zu unserer Messerattrappe. Und die Videos sind wirklich ein Anblick für sich, weil wir alle diese Aufnahmen von Babys haben, die mit einem scharf aussehenden Messer herumfuchteln."
Angeborene Vorsichtshaltung gegenüber Pflanzen
Annie Wertzs Forschungsergebnisse sind grundsätzlicher als sie zunächst scheinen. Denn sie konnte nicht nur zeigen, dass der Mensch offenbar eine angeborene Vorsichtshaltung gegenüber Pflanzen hat. Sondern auch, dass Babys viel häufiger als üblich zu ihren Eltern schauen, wenn sie Pflanzen vor sich haben.
Babys sind also nicht nur von Natur aus vorsichtiger, sondern suchen instinktiv bei ihrer Vorbildperson nach Rat. Wenn es um die Gefahr Pflanzen geht, haben wir also eine natürliche Veranlagung, von Älteren zu lernen.
"Das bedeutet, dass unsere Lernmechanismen darauf ausgerichtet sind, über bestimmte Inhalte zu lernen", sagt Annie Wertz.
"Die weiter ausgelegte Theorie ist: Unsere Gehirne sind darauf ausgerichtet, auf bestimmte Merkmale zu achten, weil wir so eine lange evolutionäre Geschichte mit Pflanzen teilen. Kinder sind also darauf vorbereitet, in die Welt zu treten und zu sehen ‚Hey, da ist eine Pflanze vor mir. Und da ist ein Erwachsener. Was macht der und was kann ich davon lernen, wie er mit der Pflanze umgeht.‘"
Wissen und Instinkt bedingen sich gegenseitig
In der klassischen Erklärung menschlichen Verhaltens wurde lange zwischen dem unterschieden, was wir erlernt haben und dem, was uns angeboren ist – zwischen Wissen und Instinkt. Bis heute ist nicht abschließend geklärt, welche Bedeutung unsere Gene und welche unser Umfeld beim Lernen haben. Annie Wertzs Forschung aber zeigt, dass beide Faktoren nicht nebeneinander existieren, sondern sich gegenseitig bedingen. Unsere Evolution hat unsere Kultur erst ermöglicht, und unsere Kultur hat unsere Evolution beeinflusst.
"Eine der größeren Lehren, die wir aus dieser Idee ziehen können, ist: Große Teile unserer Kultur haben mit Pflanzen zu tun. Wie wir Pflanzen zum Essen zubereiten, zum Beispiel, ist wahnsinnig komplex."
Unsere genetische Veranlagung zu lernen, wie wir mit Pflanzen umgehen sollen, ist nur der Anfang. Unsere Fähigkeit in sozialen Kontexten voneinander zu lernen ist Voraussetzung für alles, was uns menschlich macht: Sprache, Werkzeuge, Traditionen. Das alles wird durch ein Gehirn ermöglicht, dass sich über Jahrmillionen darauf spezialisiert hat, zu lernen: Ein zentraler Wesenszug der uns von allen anderen Lebewesen unterscheidet – zu etwas besonderem macht.
"Es gibt keinen Zweifel daran, dass die menschliche Kultur völlig anders ist als alles, was wir sonst aus der Tierwelt kennen. Wir haben uns entwickelt, um zu lernen. Wir haben uns zu einer kulturellen Spezies entfaltet. Wir haben uns zu einer sozialen Art entwickelt. Und all diese Bausteine sind miteinander verbunden, und letztlich macht uns das zu Menschen."