Gigantische Unterhaltungsmaschine

Von Elske Brault |
Das internationale Musicalunternehmen Stage Entertainment besitzt weltweit 30 Theater und hat in der vorigen Saison 560 Millionen Euro Umsatz gemacht. Mit dem neuen Musical "Ich war noch niemals in New York", das jetzt in Hamburg uraufgeführt wurde, wird sie einen weiteren Erfolg verbuchen: Ihre erste deutsche Eigenproduktion mit Liedern von Udo Jürgens hat bereits vor der Premiere 150.000 Karten verkauft.
Die Stage Entertainment verachtet Theaterkritiker, zumindest behandelt die Produktionsfirma des Udo-Jürgens-Musicals sie wie Dreck. Dem Hörfunkjournalisten drückt das Presseteam doch tatsächlich als Audiomaterial exakt dieselbe CD mit denselben drei Minuten Chorgesang in die Hand wie bei der ersten Präsentation des Musicalprojekts vor 10 Monaten. Und Mitschneiden während der Vorstellung ist streng verboten.

Da denkt der Berichterstatter zuerst spontan, alle Darsteller sängen vermutlich so unterirdisch schlecht, dass nichts davon nach außen dringen darf. Aber so ist es gar nicht. Im Gegenteil: Wenn "Ich war noch niemals in New York" mit irgend etwas punkten kann, dann mit seinen wirklich guten Schauspielern. Sowohl Kerstin Marie Mäkelburg als bärbeißige Fernsehmoderatorin als auch Jerry Marwig als dazu passendes männliches Raubein besitzen jene Bühnenpräsenz, die bei Musicaldarstellern wichtiger ist als eine in allen Registern makellose Stimme. Beide singen ausdrucksvoll und mitreißend, Marwig sogar mit einem ähnlichen Timbre wie der junge Udo Jürgens.

Noch besser sind die beiden Alten, das Berliner Theaterurgestein Horst Schultheis und die 76-jährige Ingeborg Krabbe, einst Mitgründerin des Leipziger Kabaretts "Pfeffermühle" und später eine feste Größe des DDR-Fernsehens. Wenn sie mit brüchiger Stimme "Ich war noch niemals in New York" anstimmt, zart, voller Verzicht, dann ist das eine magere Gesangs-, aber eine große schauspielerische Leistung: Spontan möchte man mitheulen angesichts so vieler verpasster Chancen in einem Leben, das nun vor seinem Ende steht. Udo Jürgens Lieder zeigen mit den neuen Interpreten neue Facetten. Leider muss jedoch meistens der Chor ran, um das Publikum zum Mitsingen und -klatschen zu animieren.

Musik: Ich war noch niemals in New York

Die familientaugliche Handlung in Kürze: Ingeborg Krabbe und Horst Schultheis erleben im Altersheim den zweiten Frühling und wollen noch einmal gemeinsam verrückt sein: Unter der Freiheitsstatue von New York heiraten. Dafür buchen sie eine Kreuzfahrt über den Atlantik. Auf der Suche nach den Eltern begegnen sich die Tochter der alten Dame, die Fernsehmoderatorin, und der Sohn des alten Herrn, Fotograf für Männermagazine. Der hat seinerseits einen zwölfjährigen Sohn, weil ihm in seiner Jugend mal ein Ausrutscher passiert ist, eine besondere Begegnung, die ihn schwach werden ließ

Musik: 17 Jahr, blondes Haar, so stand sie vor mir

Nicht nur der smarte Fotograf macht Geständnisse, auch die Fernsehmoderatorin wird an Bord des Schiffes unerwartet gefühlvoll. Und weiß plötzlich, was sie will, nämlich ihn, den allein erziehenden Vater.

Musik: Ich weiß, was ich will

Bloß muss sie dummerweise vorher noch eine Talksendung über die zunehmende Fettleibigkeit der Deutschen moderieren, zurückzuführen auf schlechte Essgewohnheiten.

Musik: Aber bitte mit Sahne

Zur Vorbereitung der Sendung kommen auch der schwule Maskenbildner der Fernsehmoderatorin mit an Bord und sein Lebenspartner Costas, der Redakteur der Sendung. Die sind von ihren Nachbarn gerade aus ihrer Wohnung geekelt worden.

Dieses ehrenwerte Haus

Alles nicht schlimm, der Name Costas sagt es ja schon: Der Lebensgefährte ist Grieche und hatte ohnehin Heimweh.

Musik: "Griechischer Wein"

Das Mitschneiden war ja eigentlich streng verboten, aber bei den heftigen Vibrationen im Zuschauerraum hat sich das Aufnahmegerät einfach von selber angeschaltet. Tja.

Das Kreuzfahrtschiff muss übrigens von Hamburg erst nach Genua fahren, durch die Meerenge von Gibraltar, und dann erst nach New York. Und genau so muss die Handlung abstruse Schleifen drehen, um die Hits von Udo Jürgens miteinander zu verbinden und vor allem das zu ermöglichen, was ein modernes Musical ausmacht: Schnelle Szenenwechsel. Denn es gilt, alle fünf Minuten neue atemberaubende Glitzerkostüme und ein spektakuläres Bühnenbild vorzuführen.

Ein Musical ist eine gigantische Maschinerie. Und der Regisseur, die Choreographin, der Maskenbildner haben hier ganze Arbeit geleistet und alle Einzelteile zur Perfektion getrieben. Ihre kreative Leistung entspricht der von Ingenieuren in einer Käsefabrik, deren unermüdliches Schrauben an den Maschinen dafür sorgt, dass vom Appenzeller bis zum Ziegenkäse alle Sorten in stets gleich bleibender Qualität vorliegen, handlich in Plastik verpackt.

Für das verlässliche Niveau der Unterhaltung sorgt auch das Libretto von Gabriel Barylli. Da heißt die Altenheimchefin "Frau Dünnbügel". Die Fernsehmoderatorin sagt: "Ich brauch kein Profil. Er soll mich von vorne filmen. Das nennt man Bildschirmpräsenz". Und als das schwule Pärchen auf dem Schiff erscheint, heißt es: "Na, wer sagt's denn: Auf hoher See Besuch vom andern Ufer." Brüllendes Gelächter im Publikum.

Die Stage Entertainment hat Recht, Theaterkritiker braucht das Unternehmen nicht. Längst hat sich ihre Musicalmaschinerie von der Presseberichterstattung abgekoppelt. 150.000 Karten sind bereits vor der Premiere verkauft für "Ich war noch niemals in New York". Eine Welle des Wohlgefühls rollt über das Land und reißt alle mit.

Die nächsten Hits sind bereits in Planung: Das Musical "Wind of Change" mit der Musik der Scorpions und Bully Herbigs Kassenknüllerfilm "Der Schuh des Manitu" als Musical. Aus dem alten Spruch "Der Teufel scheißt immer auf den größten Haufen" hat die Stage Entertainment ihre Erfolgsformel gestrickt: Sie nimmt einen großen Haufen und setzt noch einen obendrauf. Das macht die Zuschauer glücklich. Millionen Menschen in Deutschland können nicht irren.