Ginette Kolinka: "Rückkehr nach Birkenau. Wie ich überlebt habe."
Aus dem Französischen von Nicola Denis
Aufbau Verlag, Berlin 2020
128 Seiten, 18 Euro
Verstörende Zeugnisliteratur
06:12 Minuten
Erst mit 94 Jahren schreibt Ginette Kolinka ihre Geschichte mit Hilfe der Journalistin Marion Ruggieri auf und erzählt von ihrer Deportation nach "Birkenau". Ein wichtiges, zersetzendes Buch, sagt unser Rezensent.
Unter Überlebenden der Shoah gibt es jene, die schon früh damit begonnen haben, zu berichten, was sie in den Lagern der Nazis gesehen und erlitten haben – und jene, die erst Jahrzehnte später ihr Schweigen brechen.
Erst im Alter von 94 Jahren hat Ginette Kolinka die Geschichte ihres Überlebens aufgeschrieben. Nicht, weil die Erinnerungen zu schmerzhaft sind, sondern weil sie davon überzeugt war, keine gute Zeitzeugin zu sein: "Letztlich wusste ich in meinem kleinen Eckchen in Birkenau sehr wenig."
Erinnerungssplitter von Kolinkas Deportation
Dass sie ihre Erinnerungen doch aufgeschrieben hat, mit Hilfe der Journalistin Marion Ruggieri als stillem Gegenüber, ist ein Glücksfall für die "Zeugnisliteratur", jenem unscharfen und brüchigen Genre, zu dem fiktionalisierte Romane ebenso gehören wie analytische Essays, historische Studien und authentische Memoiren.
Der Titel von Kolinkas Buch, "Rückkehr nach Birkenau", erinnert an einen anderen französischen Besteller, Didier Eribons "Rückkehr nach Reims", ist jedoch keine autobiografisch unterfütterte soziologische Studie, sondern ein verstörend karger Bericht. Auf kaum 120 großzügig bedruckten Seiten wird in kurzen Erinnerungssplittern von Kolinkas Deportation als 19-Jährige aus Frankreich nach "Birkenau" im Lagerkomplex Auschwitz erzählt. Ihr Vater und ihr kleiner Bruder wurden wohl gleich nach der Ankunft vergast.
Zeugnisliteratur zeugt immer auch von den intellektuellen Prägungen ihrer Verfasser: der Chemiker Primo Levi, der seine Erfahrungen in Auschwitz mit Elementen des Periodensystems korrespondieren lässt; die spätere Literaturwissenschaftlerin Ruth Klüger, die in "Weiter leben" das Klammern an Schillerfetzen beschreibt; oder die jüngst veröffentlichten (und unsäglich vom ZPS geschändeten) Texte von Salmen Gradowski, Mitglied des "Sonderkommandos", der als revisionistischer Zionist stets in Dimensionen eines jüdischen Kollektivs denkt und seine Texte für die Nachwelt schreibt und versteckt.
Kolinka hingegen kommt als junge Frau ohne Religion, ohne Ausbildung und mit "nur etwas Küchenlatein aus der Schule" nach Birkenau. Sie will nur erzählen, was sie gesehen und gefühlt hat, sofern sie sich noch erinnert, in einfacher Sprache, genau von Nicola Denis ins Deutsche übertragen.
Wichtige biografische Dimension
Trotzdem hat "Rückkehr nach Birkenau" auch eine biografische Dimension, die über die Zeit im Lager hinausgeht. Es ist die Erzählung einer Frau, die als junger Mensch fast ein ganzes Jahr in der Hölle verbracht hat, und dann fast 70 Jahre mit falschen Bildern dieser Hölle leben muss: "Es macht mich noch immer krank, wenn man uns so darstellt", schreibt sie und meint damit, dass Auschwitz-Häftlinge wie sie stets nur in gestreiften Uniformen abgebildet werden, obwohl Kolinka und den anderen jüdischen Frauen ihres Transports 1944 lediglich alte Kleidungsfetzen zugeworfen wurden.
Sie steht dabei auch im Dialog mit den Erinnerungen anderer Überlebender wie der späteren Gesundheitsministerin Simone Veil oder der Psychoanalytikerin Anne-Lise Stern, die von Kolinka teils abweichen und sie teils ergänzen. Das Kleid, das Veil Ginette in Birkenau schenkt, wird im deutschen Marketing etwas aufdringlich zum sentimentalen Objekt gemacht, in der Erzählung selbst handelt es sich lediglich um eine spontane und im Lager seltene Geste der Solidarität, die Veil längst vergessen hatte.
Über Auschwitz und Antisemitismus sprechen
Die titelgebende "Rückkehr" findet in Form von Ausflügen statt, bei denen Überlebende mit mehr oder minder interessierten Schulklassen sprechen. Kolinkas Reaktionen auf die Gedenkstätten, die ihr wie Kulissen vorkommen, sind ambivalent: "Ich habe das Gefühl, dass dort alles zum Mitleid bewegen soll." Sie ist davon überzeugt, dass es wichtig ist, den kommenden Generationen von Auschwitz, von Antisemitismus, von Hass zu erzählen – und sie ist trotzdem voller Zweifel, ob es etwas bringt.
Sie neigt dazu, sich kleinzumachen ("Ich war 19 und nicht die Allerhellste") und gibt gleichzeitig zu, die Aufmerksamkeit auf den Klassenfahrten sehr zu genießen. Dieser Tonfall zwischen Wut und Abklärung, Zweifel und Härte, Zynismus und Verzweiflung ist jenen bekannt, die Überlebende kennen, mit ihnen sprechen können und mit ihnen aufgewachsen sind. Für die Mehrheitsöffentlichkeit mussten sie bislang eine andere Rolle spielen. Mit ihrem schmalen, harten, zersetzenden Buch bricht Kolinka diese Regel. Es ist dafür fast zu spät, aber noch nicht ganz.