Giorgio Parisi: „Der Flug der Stare“

Entdeckungsreise in die Welt komplexer Zusammenhänge

06:20 Minuten
Das Cover des Sachbuchs von Giorgio Parisi, "Der Flug der Stare". Es zeigt eine Illustration, die ein Schwarm Vögel am Himmel oder auch Eisenspähne unter Magnetwirkung zeigen könnte. Das Buch ist auf der Sachbuchbestenliste von Deutschlandfunk Kultur, ZDF und "Die Zeit".
© x

Giorgio Parisi

Aus dem Italienischen von Enrico Heinemann

Der Flug der Stare. Das Wunder komplexer SystemeS. Fischer Verlag, Frankfurt a.M. 2022

140 Seiten

23,00 Euro

Von Gerrit Stratmann |
Audio herunterladen
Wie stimmt sich ein Vogel mit dem Schwarm ab? In welcher Beziehung steht das Verhalten einzelner Akteure zu dem des Kollektivs? Der Physiker und Nobelpreisträger Giorgio Parisi beschreibt in seinem neuen Buch komplexe Systeme - detailreich und verständlich.
Im Nachhinein wirkt alles einfach. Aber der Weg zu neuen Erkenntnissen ist oft aufwändig und unvorhersehbar. Davon erzählt der 2021 mit dem Nobelpreis für Physik ausgezeichnete Forscher Giorgio Parisi in seinem Buch „Der Flug der Stare“. In dem ebenso autobiografisch wie essayistisch angelegten Bändchen reflektiert er seine Forschungsarbeit auf dem Gebiet der komplexen Systeme und denkt darüber nach, wie neue Einsichten entstehen.

Individuelles und kollektives Verhalten

Das Verhalten von Vögeln zu untersuchen, ist eigentlich Aufgabe der Biologie. Giorgio Parisi aber näherte sich dem Starenflug in den 2000er-Jahren mit den Mitteln der Physik. Wie schaffen es diese in riesigen Gruppen lebenden Vögel, in engen, ständig wechselnden Formationen zu fliegen ohne zusammenzustoßen? Niemand konnte sich das Flugverhalten dieser imposanten Wolke aus tausenden von einzelnen Vögeln erklären. Bis Parisi und sein Team sich der Sache annahmen.
Giorgio Parisi, Jahrgang 1948, hat sich im Laufe seines Forscherlebens oft mit solchen komplexen Systemen beschäftigt, die aus einer Vielzahl von Akteuren bestehen. Diese Akteure können Atome, Moleküle, Vögel, die Nervenzellen unseres Gehirns oder Teilnehmer von ökonomischen Prozessen sein.
Und immer steht da die Frage im Mittelpunkt, welche Beziehung zwischen den Verhaltensweisen eines Individuums und denen des Kollektivs besteht. Woher weiß ein Vogel im Schwarm, wohin er fliegen muss? Woher weiß ein Wassermolekül, dass das Wasser verdampft oder gefriert? Wie kommt man vom Verhalten einzelner Atome zum gesamtheitlichen Verhalten eines ganzen Systems von Atomen?

Wie entstehen neue Ideen?

In niemals überfordernder Detailliertheit beschreibt Parisi seine Forschung über sogenannte „Spin-Gläser“, Metalllegierungen mit besonderen magnetischen Eigenschaften. Die Formel, die er für ihr magnetisches Verhalten findet, erweist sich als entscheidend, um das Verhalten einer ganzen Reihe von Dingen erklären zu können.
Dass er diese Formel intuitiv findet und erst Jahre später begreift, warum sie funktioniert und was sie physikalisch bedeutet, ist ein Aspekt eines weiteren komplexen Systems, das noch viele offene Fragen bereithält: unseres Denkens. So wird sein Buch in der zweiten Hälfte zu einer Reflexion über die staunenswerte Frage, wie eigentlich neue Ideen entstehen.
Ein bisschen lässt Giorgio Parisi sich treiben in seinen Überlegungen, wechselt manchmal sprunghaft das Thema. Aber während in anderen Büchern oft nur über Ergebnisse berichtet wird, nimmt Parisi die Leser mit auf seine ganz persönliche Entdeckungsreise in die Welt komplexer Zusammenhänge und zu den Anfängen seiner Studienzeit in den 1960er-Jahren. So nahbar und unmittelbar ist Wissenschaft selten.
Mehr zum Thema