Giorgio Scerbanenco: "Das Mädchen aus Mailand. Duca Lamberti ermittelt."
Aus dem Italienischen von Christiane Rhein
Folio Verlag, Wien 2018
250 Seiten, 18 Euro
Macht, Mord und Moral
In "Das Mädchen aus Mailand" wird Duca Lamberti von einem Industriellen angeworben, um dessen Sohn wieder auf den rechten Pfad zu bringen. Doch dabei stößt der Ermittler auf ein Geflecht von Gewalt und Verbrechen. - Provokant und faszinierend.
Giorgio Scerbanenco (1911-1969) gehört mit seinen vier Kriminalromanen um Duca Lamberti, die in den Jahren 1966 bis 1969 entstanden sind, zu den wichtigsten Innovatoren des Genres. Mit "Das Mädchen aus Mailand" startet der Folio Verlag mit der überfälligen Wiederauflage der Tetralogie.
Scerbanenco, Spross einer ukrainischen Immigrantenfamilie und als Journalist und Schriftsteller in jeder Art von Textproduktion zuhause, hatte mit seinen Duca-Lamberti-Romanen nicht nur der bis dahin ephemeren italienischen Kriminalliteratur Stimme und Gewicht gegeben. (Ausnahmen wie Leonardo Scascia und Carlo Emilio Gadda bestätigen die Regel.) Das wäre allerdings nur von literaturhistorischem Interesse, wenn nicht seine immer noch sehr modern anmutende Ästhetik die Romane heute noch mit Gewinn lesbar machen würde.
Mit fragwürdigen Mitteln
"Das Mädchen aus Mailand" demonstriert sehr schön alle Qualitäten des Projekts. Ausgerechnet Duca Lamberti, der wegen Sterbehilfe im Gefängnis war und seine Approbation als Arzt verloren hatte, wird von einem reichen Mailänder Industriellen angeworben, um dessen Sohn, ein anscheinend hoffnungsloser Alkoholiker, auf den rechten Pfad zurückzubringen. Lamberti, von Geldnot gepeinigt, aber mit Unterstützung durch einen hochrangigen Polizisten-Freund, nimmt den Job an, sucht nach den Ursachen der Trunksucht des jungen Mannes und stößt auf ein kompliziertes Mordszenario, in dem es um Zwangsprostitution, Pornographie und Erpressung geht. Geschäftsbereiche, die in dem wirtschaftlich boomenden Mailand, in das die Nachkriegs-Moderne mit allen Konsequenzen Einzug gehalten hat, sozusagen zur DNA der Stadt gehören. Das ist schon bemerkenswert genug, wie Scerbanenco hier "Verbrechen" einerseits konkret kontextualisiert, seine Bekämpfung andererseits an moralisch-ethische Optionen koppelt, die nicht immer unproblematisch sein können. Lamberti, der nichts mehr zu verlieren hat, außer seinem moralischen Kompass, weiß, dass das "Böse", "das Verbrechen" nicht final zu bekämpfen, gar auszurotten ist, trotzdem nimmt er diesen Kampf an – mit Mitteln, die mehr als fragwürdig sind. Damit schließt er, wenn überhaupt, höchstens an die moralischen Grauwerte von Dashiell Hammetts namenlosen "Continental Op" an, und verweigert jede Identifikationslektüre, im europäischen Kontext damals unerhört und auch heute noch an manchen Stellen durchaus verblüffend.
Ein dramaturgisches Meisterstück
Noch bemerkenswerter ist allerdings seine Prosa. Scerbanenco entwickelt einen eigenen Sound, einen elegant virtuosen Mix aus auktorialem und personalem Erzählen. Schon der Prolog des Romans, in dem indirekt, als Dialog, vom Auffinden einer Frauenleiche erzählt wird, ist ein dramaturgisches Meisterstück. Das Changieren der Erzählperspektiven bis in die Satzebene erlaubt das Einschieben von Kommentaren, kalten Lakonismen, grimmiger Komik, tiefsinniger Reflexion und intelligenter Dialoge. Es verhindert aber vor allem eine vereindeutigende Lesart. Scerbanenco stellt so alle Möglichkeiten des Umgangs mit Gewalt und Verbrechen zur Disposition, auch die von Duca Lamberti. Das ist unbequem, manchmal prekär, aber auf jeden Fall faszinierend provokant und riskant. Eine ideale Quadratur des Kreises von Form und Inhalt.