Giosué Calaciura: "Die Kinder des Borgo Vecchio"
Aus dem Italienischen von Verena von Koskull
Aufbau Verlag, Berlin 2019
153 Seiten, 18 Euro
Verstörend selbstverständliche Gewalt
06:33 Minuten
Eine Kindheit im Armenviertel von Palermo ist in Giosué Calaciuras Roman niemandem zu wünschen: Sie ist bestimmt von Prostitution, Gewalt und Verbrechen. Die Brutalität fasst der Autor in poetische Worte - das gelingt nicht immer.
Der Borgo Vecchio ist ein Armenviertel in Palermo. Die Leute dort sind arm und ihr natürlicher Feind ist das Gesetz, das gilt sogar für den Gemeindepfarrer. Und sie sind roh. Solidarität der Schwachen? Keine Spur. Jeder sieht, wo er bleibt und schert sich nicht um das Wohlergehen des Nachbarn. Das trifft jedenfalls auf die Erwachsenen zu. Die Kinder müssen einen schmerzhaften Weg zurücklegen, um so zu werden.
Giosué Calaciura, selbst aus Palermo stammend und in Rom lebend, hat in den Mittelpunkt seines Romans drei Kinder gestellt: Der Borgo Vecchio ist die geografische wie moralische Umgebung, in die sie hineinwachsen, aber noch sind sie nicht darin aufgegangen. Mimmo ist der Sohn des Fleischers, der seine Waage manipuliert hat, um sich an den paar Lire seiner Nachbarn zu bereichern. Sein Sohn nervt ihn vom ersten Tag seines Lebens an. Mimmos bester Freund Cristofaro ist der Sohn eines gewalttätigen Säufers, der ihn Abend für Abend verprügelt. Die Nachbarn hören ihn schreien, über Jahre. Und tun nichts.
Gewalt trifft alle, vor allem die Unschuldigen
Und dann ist da Celeste. Celeste, was für ein Name für die Tochter einer Prostituierten und eines unbekannten Vaters: die Himmlische. Celestes Mutter Carmela ist eine sehr fromme Frau, die bei der Arbeit meistens vor einem Madonnenbild kniet. Wenn ein Freier kommt, schließt sie die Fensterläden und schickt ihre Tochter auf den Balkon. Dort sitzt das Kind mit seinen Schulbüchern und lernt, auch im Winter, in extra von der Mutter gekauften warmen Kleidern.
Diese drei Kinder verbindet eine zärtliche Freundschaft - und die Bewunderung für Totò, den Räuber, der mit seiner Pistole die Straßen unsicher macht.
Die Selbstverständlichkeit, mit der hier von Gewalt erzählt wird, ist verstörend: von einer physischen, brutalen Gewalt, die allgegenwärtig ist und Kinder, Tiere und Rivalen gleichermaßen trifft. Noch verstörender aber ist, dass Calaciura dies in magische, poetische Worte fasst. Über Schreie und Schläge, Katastrophen und Überfälle schreibt er in Worten, die sich an ihrer eigenen Schönheit zu berauschen scheinen.
Dümmlicher Euphemismus
Aber leider überschreitet er dabei gelegentlich die Grenze zum Kitsch - etwa wenn er das Sexgewerbe in katholischen Pastelltönen malt und Carmela mit der Aura einer Heiligen ausstattet. Und wenn er dann auch noch Totò, den Räuber, Touristinnen damit drohen lässt "sie auf der Stelle schnell und gewaltsam zu lieben", ist das ein wirklich dümmlicher Euphemismus für Vergewaltigung.
In seiner Grausamkeit und seiner atmosphärischen Dichte, auch in seinen an den seligen García Márquez gemahnenden hypertrophen Erscheinungen, ist dieses Buch zugleich faszinierend und abstoßend, wie ein sizilianisches Altarbild voller Blut und Wunden.