Giovanni Maio: "Den kranken Menschen verstehen"
Für eine Medizin der Zuwendung
Herder Verlag, Freiburg 2015
223 Seiten, 19,99 Euro
Wenn der eigene Körper zur Bedrohung wird
Was bedeutet es, an Krebs zu erkranken - oder an chronischen Schmerzen zu leiden? Der Ethikprofessor Giovanni Maio gibt in "Den kranken Menschen verstehen" Antworten auf diese Fragen. Dabei trifft er einen ebenso helfenden wie tröstenden Ton.
"Den kranken Menschen verstehen" heißt das neue Buch des Freiburger Ethikprofessors Giovanni Maio und etwas würde man bei einem Titel wie diesem wohl zuletzt erwarten: dass sich bereits nach wenigen Seiten Lesefieber und Spannung einstellen. Denn schon angesichts des Inhaltsverzeichnisses tut sich die bange Frage auf, ob es ihm gelingt, zum Thema Krebs, Demenz, schwere chronische Schmerzen, unheilbare Krankheiten, Sterben und Tod etwas zu sagen, das sich von Fluchtroutinen und Verharmlosung fern hält – und trotzdem hilft und tröstet?
Ja, mit traumwandlerischer Sicherheit, weil Giovanni Maio aus einer stimmigen Quelle schöpft: Wo andere längst aufgegeben haben, nimmt er wie selbstverständlich Würde wahr, spürt den Wert des Daseins, sieht die Kraft der Mitmenschlichkeit und die Schönheit des Augenblicks, auch wenn dieser Augenblick in einem Meer aus Unwägbarkeiten und Unsicherheiten schwimmen mag.
Was zum Beispiel bedeutet es, an Krebs zu erkranken? Auf einmal wird ein Mensch vom Reich der Gesunden in das Reich der Kranken geworfen, beschreibt Giovanni Maio. Auf einmal zerbrechen alle Zukunftsperspektiven und wie bei kaum einer anderen Krankheit fühlt sich der Mensch aus seiner "leiblichen Geborgenheit" katapultiert. Schließlich geht die Bedrohung vom eigenen Körper aus und es sind die eigenen Zellen, die sich heimtückisch und feindlich dem kreatürlichsten aller Wünsche entgegen stellen - als Individuum hier bleiben und weiterleben zu können.
Oder was bedeutet es, an chronischen Schmerzen zu leiden? Der Kranke erlebt eine "totale Gefangennahme", erklärt der Autor. Wer immer er vorher war, wie er sein Leben lebte, was ihm wichtig schien und was nicht – den Tyrannen Schmerz schert es nicht.
Hart und zugleich poetisch formuliert
Das ist ungeschminkt und tief hingeschaut, hart und zugleich poetisch formuliert. Gerade weil Giovanni Maio seinen Leserinnen und Leser nichts vormacht, wiegt sein guter Rat umso schwerer. Wie etwa lässt sich ein würdevoller Umgang mit einem Leben gestalten, das in einer Demenz in tausend Fragmente zerfällt?
Auch Demenz-Patienten können Remenz-Patienten sein, betont der Autor, wenn die Gesunden sich nicht darauf versteifen, dass die Erinnerung rational und intellektuell hervorzubringen sei. Es ist der Körper, der die Erinnerungen noch lange aufbewahrt und hier können sie auch wieder lebendig werden, wenn ein Mensch Musik hört oder singt, sich gestreichelt fühlt, ein Tier auf den Arm nehmen oder Schokolade schmecken kann. Mit seinem resonanzfähigen, mitschwingenden Körper spreche auch der demenzkranke Mensch weiter mit seiner Umgebung.
Es versteht sich, dass Giovanni Maio dem gegenwärtigen, von Ökonomisierung und Zweckrationalität geprägten Medizinbetrieb vieles ins Stammbuch zu schreiben hat. Auch das tut er differenziert, Möglichkeiten und Grenzen der Arzt-Patientenbeziehung zwischen Anteilnahme und gebotener Sachlichkeit sensibel auslotend. Sein Fazit bleibt unmissverständlich: "Ohne Zuwendung ist alles nichts".