Gian Alfonso Pacinotti: "Eine Geschichte"
© Avant
Die zerstörerische Kraft der Kriegstraumata
06:36 Minuten
Gian Alfonso Pacinotti
Aus dem Italienischen von Myriam Alfano
GIPI: "Eine Geschichte"avant, Berlin 2022126 Seiten
28,00 Euro
Ein Schriftsteller beschäftigt sich mit den Kriegserlebnissen des Urgroßvaters und wird von diesen überwältigt. In einer autobiografischen Graphic Novel beschreibt der Comic-Künstler GIPI die Seelenzustände eines in der dritten Generation Traumatisierten.
Ein nackter Mann läuft durch eine nächtlich illuminierte Großstadt. Der nasse Asphalt reflektiert die Lichter der Verkehrssignale und Autos, die ungehindert durch die dürre, einsame Gestalt dringen.
Das Cover der Graphic Novel „Eine Geschichte“ symbolisiert den Seelenzustand des Protagonisten Silvano Landi. Er liefert sich schutzlos den Kriegserlebnissen seiner Vorfahren aus.
Briefe aus dem Schützengraben
Der 50-Jährige liest obsessiv in den Briefen, die der Urgroßvater aus den Schützengräben des Ersten Weltkriegs an seine Frau schrieb. Aus den Schilderungen der traumatischen Erlebnisse möchte der Schriftsteller ein eigenes Buchprojekt machen.
Doch nach und nach verliert der Getriebene den Bezug zur Gegenwart. Als ihn seine Frau mit der gemeinsamen Tochter verlässt, bricht für Landi eine Welt zusammen: Er landet orientierungslos in einer psychiatrischen Anstalt.
In rasanter Parallelmontage verknüpft die von Gian Alfonso Pacinotti, dem Shootingstar des europäischen Comics, gezeichnete Geschichte Gegenwart und Vergangenheit. Ein Wort oder ein Bild rufen die vergangenen Gespenster hervor und lassen Silvano Landi und damit die Leser:innen schutz- und übergangslos in grausame Kriegserlebnisse des Urgroßvaters kippen.
Ganzseitige Aquarelle von kargen Landschaften und dem dunklen verhangenen Himmel sind bildliche Allegorien der Seelenzustände des Urgroßvaters. Während das Kriegsgeschehen noch in klassischen Panels erzählt ist – filmische Perspektiven nehmen den Blickwinkel der in den Schützengräben hockenden Soldaten ein – zieht Pacinotti in der Ebene der Gegenwart alle Register der Comic-Kunst.
Kakophonie der Diagnosen
Zittrige, fieberhafte Schwarzweiß-Zeichnungen ohne Rahmen offenbaren Landis rätselhafte Gedanken zum Thema Alter und Tod. Die Ärztinnen und Ärzte tragen überzeichnete Gesichtszüge, ihre Sprechblasen werden zu einer Kakophonie der Diagnosen.
Es ist die große Stärke dieses Buches, dass der Bild- und auch der Textebene eigenständige Rollen zugestanden werden. Erst im Zusammenspiel entsteht eine kunstvoll verwobene Geschichte, eine Graphic Novel, die beim Vor- oder Zurückblättern immer neue Deutungen zulässt.