Gisela Kleine: Ninon und Hermann Hesse - Biographie eines Paares
insel taschenbuch, Berlin 2017
694 Seiten, 16,95 Euro
Die Frau, die Hesse zu Hesse machte
Er nannte sie "kleines Mädchen", doch ohne seine Frau Ninon wäre Hermann Hesse vielleicht nie zu dem berühmten Literaten geworden, der er war. Gisela Kleines neuaufgelegte Paarbiografie gibt Einblicke in eine bisweilen befremdende Liebesbeziehung.
Die strahlend lachende Frau mit dem markanten Gesicht auf dem Buchcover, Ninon, umarmt von ihrem großen schlanken, akkurat gekleideten Mann Hermann Hesse, der ernst und fragil wirkt, fast asketisch. Ein scheinbar vertrautes, glückliches Paar auf diesem Foto aus den 1950er-Jahren. Da ist der Schriftsteller bereits über 80, die Frau an seiner Seite 18 Jahre jünger.
Ein spätes, von Ninon Hesse hart erkämpftes Glück, wie aus den umfangreichen Schilderungen Gisela Kleines zu erfahren ist, die in elf Kapiteln zwei Leben vorstellt und deren bisweilen seltsam anmutende, befremdende Liebesbeziehung: Für Ninon ist sie vor allem mit Aufopferung und Entbehrung verbunden.
Sein erster Roman ist für die 14-Jährige eine Offenbarung
Die in Czernowitz geborene Ninon Ausländer aus jüdischer großbürgerlicher Familie entdeckt den Schriftsteller für sich, als sie 14 Jahre alt ist: Der erste erfolgreiche Hesse-Roman "Peter Camenzind" wird für sie zu einer Art Offenbarung. Die kluge, literaturhungrige Gymnasiastin ist selbstbewusst genug, Hesse ihre beglückenden Eindrücke, aber auch Kritik in einem ersten Brief mitzuteilen:
"Wir armen Nichtdichter (...) wir stehen staunend vor einem Menschen wie Camenzind. Glück, Glück hat er gesucht, und hat es auch damals noch gesucht, als er glaubte, den Frieden errungen zu haben. Oder ist der Friede Glück? Es muss eigentlich schön sein, wenn es still in einem geworden ist, ganz still und ruhig, und doch wieder muss es furchtbar sein, diese Ruhe, wenn sich keine Hoffnung an sie knüpft, Hoffnung, die vielleicht der beste Teil vom Glück ist. Aber sollte denn wirklich ein Mann, der mitten im Leben steht, der arbeitet und schafft, schon mit dem Leben abgeschlossen haben?
Ninon Ausländer fühlt von Beginn an eine innere Verbundenheit mit Hermann Hesse, jenem Suchenden, der das eigene Sein erkundet, die Schattenseite und Abgründe –vor allem: der die Wahrheit sucht und literarisch verarbeitet. Ninon sehnt sich nach einer schöpferischen Arbeit, doch sie entscheidet sich – nicht ihrem Gefühl folgend, sondern unter dem Diktat ihrer Vernunft – für ein Medizinstudium in Wien.
Fesselnd und stilistisch elegant
Gisela Kleine schildert – fesselnd und stilistisch elegant – die Lebensumstände der 1895 geborenen Ninon Ausländer im multikulturellen Czernowitz in der Bukowina; die Zeit der Vertreibung der Familie aus der Heimatstadt nach russischen Besetzungen im Ersten Weltkrieg, die künstlerischen Strömungen jener Jahre, gekoppelt an die Entdeckung der Psychoanalyse, die auch für Hermann Hesse bedeutend wurde. Ninon Ausländer liebt das Leben in Wien, wo sie ihren ersten Mann kennenlernt, den Zeichner und Karikaturisten, Benedikt Fred Dolbin.
Dolbin, ganz und gar nicht so vergeistigt und weltabgewandt wie Hermann Hesse, sammelt jedoch nicht nur Gesichter, für die er erst später berühmt wird, er genießt das Leben als Bonvivant und betrügt Ninon. Gekränkt findet sie Zuflucht bei Hermann Hesse, der Sehnsucht seit ihrer Jugend. Der Dichter ist bereits Vater von drei Söhnen und zum zweiten Mal verheiratet, als sie ihn im Tessin besucht. Nach einer Begegnung mit ihm will sie sich endgültig von ihrem Ehemann trennen, wie sie Dolbin in einem Brief mitteilt:
"Du sagst, daß in mir immer die Sehnsucht nach meinem Vater lebt. Du hast gewiß recht. (...) Du bist so jung, so voller Glauben an Dich selbst. Du schreibst, alles, was Dir begegnet, bringt Dich weiter – vielleicht wirst Du aus diesem Schmerz, den ich Dir bereite, neugeboren auftauchen. Aber H(esse) ist so entsetzlich unglücklich, so allein, trotz seiner drei Söhne und zwei Frauen und hundert Freunden – sie sind nur Genossen für seine guten Stunden, keiner konnte die schlechten Stunden ertragen – vielleicht auch, weil niemand ihn so versteht wie ich. Ist das nicht Schicksal? Ist das nicht meine Berufung?"
Das Leben ist "eine unerträgliche Qual und Schweinerei"
Hesse, das ist der melancholische, mehr noch, der des Lebens überdrüssige, betrübte Schriftsteller, der sich oft nach dem Tod sehnt:
"Die Welt wird nicht vom Heiland regiert, sondern vom Teufel, und das Leben ist kein Gottesgeschenk, sondern eine unerträgliche Qual und Schweinerei."
Das Leid aber, das ihn bis zu Suizidgedanken treibt, ist die Voraussetzung für seine literarische Arbeit. Ninon sieht sich als Hesses Retterin. Sie ist zutiefst überzeugt, die richtige Frau an seiner Seite zu sein, wird – wegen der kranken Augen des Schriftstellers – seine Vorleserin und will in seiner Nähe bleiben.
Gisela Kleine beschreibt diese kluge, gebildete Frau als eine, die sich – trotz eigener intellektueller Ambitionen – mit entbehrungsvoller Hingabe in den Dienst des Mannes stellt und die sich doch aus dem eigenen Leid und den Verletzungen herausbegibt und sich nicht ganz selbst vergisst. Sie reist allein, bildet sich in den Bibliotheken von Rom und in Griechenland, dem Land ihrer Träume.
"1931 in Rom die Antike entdeckt. Rezeptive Beschäftigung mit griechischer Kunst, Literatur, Philosophie, Pindar, Aischylos, Hesiod und archäologischen Werken. (...) Schade, daß ich solch ein Torso geblieben bin. Immer wieder versuche ich etwas, aber es reicht eben doch zu nichts, weder zum Kritisch-Essayistischen, noch zu braver Kunstgeschichtsschreibung, noch zur Literatur. Es reicht nur immer so weit, daß ich mich unglücklich im Wirtschaftsführern fühle."
Hesse nennt Ninon "kleines Mädchen". Und doch ist sie es, die den Dichter und Weltabgewandten beschützt, vor lästigen Besuchern beispielsweise, die seine Tobsuchtsanfälle erträgt und die ihn tatkräftig unterstützt, als es in den 1930er-Jahren darum geht, Flüchtlingen aus Nazi-Deutschland zu helfen. Gisela Kleine schreibt:
"Nie wurde bisher erwähnt, in welchem Umfang Ninon gemeinsam mit Hesse für Emigranten eintrat, die Empfehlungsschreiben oder Visavermittlung benötigten, um Aufenthalt oder Einbürgerung in der Schweiz zu beantragen, und die bei ihren Gesuchen an die eidgenössische Fremdenpolizei unterstützt werden mußten."
Einsatz für Flüchtlinge
Alles Nationale und Nationalistische war dem von vielen als "unpolitisch" betrachteten Hesse fremd. Gisela Kleine hebt auch die entschiedene Haltung Hesses hervor, gegenüber den Nationalsozialisten und deren Mitläufern. Viele Erkenntnisse der Autorin mögen 1982 noch als Neuigkeiten gewertet worden sein, inzwischen ist beispielsweise der Einsatz der Hesses für Flüchtlinge bekannt, auch aus dem Briefwechsel zwischen dem Schriftsteller und seinem jüngeren Kollegen Peter Weiss.
Das Buch – bisweilen ein wenig aufgebläht, allzu detailreich mit vielen Zitaten aus Briefen, Tagebüchern und Zettelchen – liest sich dennoch flüssig und spannend. Die Wiederauflage der Erstveröffentlichung aus dem Jahr 1982 – in der alten Rechtschreibung, dafür komplett ohne Druckfehler – setzt noch einmal ein Zeichen: Hesse wurde nicht nur aus eigener Kraft zu dem berühmten Literaten, er war angewiesen auf die Frau an seiner Seite. Gisela Kleine fasste das so zusammen:
"Die Aussage einer Verwandten Hesses sei stellvertretend für die vieler anderer Augenzeugen angeführt: 'Ninon war sicher der einzige Mensch, der fähig dazu war, Hesse über die Jahre des 'Klein und Wagner', des 'Steppenwolf', die Gedichte 'Krisis', die Verzweiflung, den Wunsch nach Selbstmord hinwegzuleiten und stärkend bei ihm zu sein bis zum 'Glasperlenspiel' und den Jahren der Weisheit, der Größe des Alters."