Giulia Caminito: "Das Wasser des Sees ist niemals süß"

Wut über die Kindheit in der Vorstadt

06:13 Minuten
Cover des Romans "Das Wasser des Sees ist niemals süß" von Giulia Caminito
© Wagenbach

Giulia Caminito

Aus dem Italienischen von Barbara Kleiner

Das Wasser des Sees ist niemals süßWagenbach, Berlin 2022

320 Seiten

26,00 Euro

Von Anne Kohlick |
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Die Bestseller-Autorin Giulia Caminito trifft den Nerv der jungen Generation Italiens – auch mit ihrem neuen Roman. Der handelt vom Aufwachsen in prekären Verhältnissen und einer Ich-Erzählerin, deren Zorn brandgefährlich ist.
Einmal etwas Neues besitzen! Eine Barbiepuppe in Originalverpackung, ein Schulranzen ohne Gebrauchsspuren – davon träumt das kleine Mädchen aus Rom, das im Zentrum von Giulia Caminitos neuem Roman steht. Doch ihre Eltern – die Mutter putzt, der Vater sitzt im Rollstuhl, seitdem er beim Schwarzarbeiten auf einer Baustelle vom Gerüst fiel – können sich für ihre vier Kinder nur das Nötigste leisten.
Dafür ist Mutter Antonia, von allen wegen ihrer roten Haare nur “La Rossa” genannt, Meisterin im Improvisieren und Recyceln: In leere Joghurtbecher pflanzt sie Ableger von Kakteen, aus den Gemüseresten vom Vortag kocht sie Minestrone. Für ihre schlaue Tochter hat sie Pläne: Gute Noten sollen ihr einmal ein Studium, eine Karriere ermöglichen und sie weit wegbringen von dem Kellerloch an der Peripherie Roms, wo sie am Anfang des Buches leben.

Düstere Coming-of-Age-Geschichte

Man erwartet einen Bildungsroman, wenn man die ersten Kapitel von “Das Wasser des Sees ist niemals süß” liest. Aber das Versprechen vom Aufstieg wird sich nicht erfüllen für die Ich-Erzählerin, die sich aus einer erwachsenen Perspektive – nüchtern und hart – in ihre Kindheit zurückversetzt. Was die 1988 geborene Giulia Caminito in ihrer düsteren Coming-of-Age-Geschichte schildert, ist ein Weg hinein in immer größere Bitterkeit, Verachtung und Wut, die sich in Gewalt entladen wird.
Ihre Ich-Erzählerin sei für viele junge und von der Politik enttäuschte Menschen in Italien eine Identifikationsfigur, sagt die Autorin des Romans in Interviews. Er ist auch ein Schlüssel zum Erfolg für sie. 2021 war er für den wichtigsten Buchpreis Italiens, den Premio Strega, nominiert und erscheint jetzt in 20 weiteren Sprachen.

Vorheriges Buch: "Ein Tag wird kommen"

Am Wasser des Sees, der für die Ich-Erzählerin nur einen glücklichen Sommer lang süß schmeckt, dem Lago di Bracciano nördlich von Rom, ist Giulia Caminito aufgewachsen. Sie hat Philosophie studiert, bevor sie begann, Bücher zu schreiben – zwei ihrer Romane sind mittlerweile bei Wagenbach erschienen. Schon den komplexen Stil ihres letzten Buchs “Ein Tag wird kommen”, das in den 1910er-Jahren zwischen Weltkrieg und spanischer Grippe in den ostitalienischen Marken spielt, hat Barbara Kleiner meisterlich ins Deutsche übertragen.
Das gelingt jetzt wieder. Vergleiche in langen Sätzen und dichte Beschreibungen lassen Bilder entstehen, die einem lange nicht aus dem Kopf gehen: „Es war Mai, als mein Vater in der Mitte entzweibrach, er stürzte von einem Baugerüst. Es war Mai und mein Vater lag rücklings auf dem Boden wie ein Käfer, er bewegte seine Beine ein letztes Mal. Als ein Freund meines Vaters Bescheid gesagt hatte, warteten wir zu fünft an der Haltestelle auf den Bus zum Krankenhaus, der nicht kam.“

Geht es Italienern mal besser als ihren Eltern?

Sie ist keine Heldin zum Mitleiden, diese junge Frau, die mit Geringschätzung auf alle um sie herum schaut – sich selbst aber genauso wenig lieben kann. Erst als es zu spät ist, weiß sie, wer ihre Nähe verdient und welche Entscheidungen sie nicht aus Trotz hätte treffen sollen.
Der See wird am Schluss dieses beklemmenden Anti-Bildungsromans zur Metapher der Leere. Ein ausgebrannter Vulkankrater, kreisrund wie die Handlung, die am Ende zurück zum Anfang führt und die Frage aufwirft: Wie vielen der heute 30-Jährigen in Italien wird es eines Tages besser gehen als ihren Eltern?

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