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Macht des Schicksals, Übermacht der Erinnerung
Eine Geschichte von Flucht, Vergeltung, Liebe und Tod. Ein Leben zwischen Kloster und Schlachtfeld. Logik? Nebensache. Ideale Voraussetzungen für die Opernbühne. Was aber hält "Die Macht des Schicksals", dieses zerrissene Meisterwerk von Giuseppe Verdi, zusammen?
Fast jedes Einzelstück dieser Oper ist auch ein Zugstück, in aller Welt und von jedermann gern gehört. Die Oper als ganze hingegen gilt nicht als die repertoirefähigste unter Verdis großen Meisterwerken.
Spottlust und Missverstehen sind in fast anderthalb Jahrhunderten nicht müde geworden, an den "Ungereimtheiten" der Handlung, am "Mischmasch" der von Verdi erprobten Stilebenen, an den schwer durchschaubaren Motivationsschüben dieser verworrenen Tragödie ihr Mütchen zu kühlen.
In den chaotisch zerfallenden Welten der "Macht des Schicksals" kann es keine logische Einheitlichkeit, kann es nur willkürlich sprunghafte Wendungen geben. Es sind Welten, die von zwei Kriegen gezeichnet sind, vom Spanischen Erbfolgekrieg 1701-1714 (der die Vorgeschichte prägt) und vom Österreichischen Erbfolgekrieg 1740-1748; und dieser ist es, der auf der eigentlichen Haupthandlung, den auf der Bühne gezeigten Militär- und Lagerepisoden lastet.
Liebe, Hass, Verzweiflung
Eine Oper, die zwischen Extreme gespannt ist. Sie spielt sich übergangslos mal im weltentlegenen "heiligen" Klosterbezirk, mal auf dem tumultuös zergliederten Schlachtfeld ab. Ein buntscheckiges Panorama, aus dem wie aus einem monumentalen Flachrelief die Schicksale der Einzelnen hervortreten, angetrieben von unsterblicher Liebe, unversöhnlichem Hass und endloser Verzweiflung.
Verdi kennt da keine Zurückhaltung, er schreckt nicht davor zurück, Krieg und Komik, sakrale Magie und allzumenschliche Banalität, ungestillte Leidenschaft und erbärmliches Scheitern, einen immensen Vielvölkerhorizont und die individuelle Seelenregung in ein und denselben Rahmen zu zwingen. Es bleibt ein Geheimnis der Schicksalsmächte, wieso Figuren wie Preziosilla oder Fra Melitone gerade noch im tiefsten Spanien und im nächsten Augenblick in der Nähe von Rom auftauchen. Krieg ist eben Krieg.
Zu allem Überfluss hat Verdi die multiplen Perspektiven ein weiteres Mal aufgespalten. Er, der fast 50-Jährige, wollte eigentlich keine Oper mehr schreiben. Aber dann fand er, er brauche mehr Geld für den Ausbau seiner Ländereien in der Emilia Romagna, und er akzeptierte den Auftrag, für die Kaiserliche Oper in Sankt Petersburg ein neues Bühnenwerk zu komponieren.
Die Urteile nach der Premiere 1862 waren gemischt. Verdi musste zwar nicht unzufrieden sein, aber die "Macht" blieb ein mächtiger Stachel in seiner Komponistenseele. Mailand lernte sieben Jahre später, 1869, die zweite Version der Oper kennen. Die war nicht grundlegend "besser", Verdi blieb den Grundzügen der ersten Fassung treu. Aber er hat einige wichtige Details verändert, hat derselben Angelegenheit ein paar neue Aspekte hinzugefügt.
Flucht, Verfolgung, Vergeltung
Es blieb eine Geschichte von Liebe und Tod, Flucht, Verfolgung und Vergeltung, reich an darstellerischen und sängerischen Herausforderungen für die Protagonisten, von denen einige besonders berühmte in der Sendung vorgestellt werden. In der Partie der Leonora sind das: Renata Tebaldi, Leontyne Price, Maria Callas, Galina Gorchakova, Rosa Ponselle, Meta Seinemeyer, Zinka Milanov, Walburga Wegner; als Alvaro sind Mario del Monaco, Carlo Bergonzi, Plácido Domingo, Gegam Grigorian, José Carreras, David Poleri und Richard Tucker zu hören, als werden Carlo Tagliabue, Ettore Bastianini, Heinrich Schlusnus, Marko Rothmüller (Carlo) präsentiert.
Diese Sendung aus dem Jahr 2008 wiederholen wir im Gedenken an unseren langjährigen Autor Karl-Dietrich Gräwe. Ein veritabler Kenner und Liebhaber der Oper, hatte der 1937 in Bielefeld geborene Gräwe über Richard Strauss promoviert, kehrte aber immer wieder zur italienischen Oper – und nach Italien – zurück. Als Librettist von Giuseppe Sinopolis "Lou Salomé" schrieb sich Gräwe selbst in die Operngeschichte ein. Vor einem Jahr, am 14. Oktober 2019, ist "Carlo" Gräwe im Alter von 82 Jahren gestorben.