Glanz und Elend der menschlichen Lust
Gibt es eine infantile Sexualität und wo ist ihre Grenze? Kann man ohne jedes Lustgefühl asexuell leben? Lassen sich perverse sexuelle Wünsche in eine nichtperverse sexuelle Beziehung integrieren? Das sind nur ein paar der Fragen, mit denen sich der renommierte Sexualforscher Volkmar Sigusch in seiner langjährigen Tätigkeit als Direktor des Instituts für Sexualforschung beschäftigt hat.
Sein neues Buch "Auf der Suche nach der sexuellen Freiheit" ist Rechenschaftsbericht und Vermächtnis in einem. Zusammengestellt ist es aus Zeitungsartikeln, Fachveröffentlichungen und wenigen neu geschriebenen Texten, was dazu führt, dass sich das Niveau zum Teil erheblich unterscheidet – sowohl die Rekonstruktion von Korrespondenzen und Reaktionen rund um die Abschaffung des Paragraph 175, als auch die Dokumentation von Siguschs verlorenem Kampf um die Erhaltung des Instituts für Sexualforschung sind etwas lang geraten, einige der zahlreichen Interviews sind redundant.
Von diesen, wohl dem Versuch der Vollständigkeit geschuldeten Mängeln abgesehen, eröffnet sich dem Leser ein Blick in das faszinierende Reich der westlichen Sexualität. Alle Texte sind durch Sigusch aufklärerischen Duktus verbunden; sein wichtigstes Anliegen ist die Entpathologisierung des menschlichen Begehrens.
Um der Fülle an Themen Herr zu werden, hat der Autor das Buch in fünf Bereiche geteilt. Am Anfang steht der "mundus sexualis", und es geht um kluge Thesen zur Erotik des Kindes oder die Frage nach der Existenz einer "Weltsexualität" – was Sigusch als Soziologe, der Zusammenhänge immer kulturell versteht, entschieden ablehnt. Der Homosexualität sind ebenso Kapitel gewidmet wie den Neosexualitäten, dieser von Sigusch beobachtete kulturelle Wandel, der dazu führte, dass sexuelle Spielarten wie Fetischismus und Sadomasochismus zunehmend toleriert werden und klassische Rollenbilder aufweichen. Man denke an "Metrosexualität" und "Gender-Blending".
Der brillante Artikel über Transsexuelle als "Neogeschlechter" gehört zu den Highlights des Buches und zeigt eindrucksvoll, wie nur eine fachübergreifende Diskussion, die medizinische sowie soziale und psychologische Faktoren mit einbezieht und nie den oder die Einzelne aus dem Blick verliert, die Frage nach dem "dritten Geschlecht" adäquat zu fassen vermag.
Der vierte Block ist dem Verhältnis von Sexualität und Politik gewidmet, Schwerpunkte sind neben dem Erbe der 68er-Bewegung die Potenzdroge Viagra sowie fundierte sexualwissenschaftliche Überlegungen zum Thema Prostitution.
Der letzte Teil umfasst neben einer kritischen Würdigung der Psychoanalyse Siguschs beredte Verteidigung der Sexualwissenschaft als notwendigem Fachbereich. Neu ist das alles nicht, aber ein gelungener Überblick über das Lebenswerk eines engagierten Humanisten. Zudem wird klar, dass die Frage nach Grenzen und Formen der menschlichen Lust immer wieder neu gestellt werden muss – hoffentlich mit der gleichen Toleranz und Sachkenntnis wie in den Forschungen und Publikationen des großen Volkmar Sigusch.
Besprochen von Ariadne von Schirach
Volkmar Sigusch: Auf der Suche nach der sexuellen Freiheit. Über Sexualforschung und Politik
Campus Verlag, März 2011
294 Seiten, 24,95 Euro
Von diesen, wohl dem Versuch der Vollständigkeit geschuldeten Mängeln abgesehen, eröffnet sich dem Leser ein Blick in das faszinierende Reich der westlichen Sexualität. Alle Texte sind durch Sigusch aufklärerischen Duktus verbunden; sein wichtigstes Anliegen ist die Entpathologisierung des menschlichen Begehrens.
Um der Fülle an Themen Herr zu werden, hat der Autor das Buch in fünf Bereiche geteilt. Am Anfang steht der "mundus sexualis", und es geht um kluge Thesen zur Erotik des Kindes oder die Frage nach der Existenz einer "Weltsexualität" – was Sigusch als Soziologe, der Zusammenhänge immer kulturell versteht, entschieden ablehnt. Der Homosexualität sind ebenso Kapitel gewidmet wie den Neosexualitäten, dieser von Sigusch beobachtete kulturelle Wandel, der dazu führte, dass sexuelle Spielarten wie Fetischismus und Sadomasochismus zunehmend toleriert werden und klassische Rollenbilder aufweichen. Man denke an "Metrosexualität" und "Gender-Blending".
Der brillante Artikel über Transsexuelle als "Neogeschlechter" gehört zu den Highlights des Buches und zeigt eindrucksvoll, wie nur eine fachübergreifende Diskussion, die medizinische sowie soziale und psychologische Faktoren mit einbezieht und nie den oder die Einzelne aus dem Blick verliert, die Frage nach dem "dritten Geschlecht" adäquat zu fassen vermag.
Der vierte Block ist dem Verhältnis von Sexualität und Politik gewidmet, Schwerpunkte sind neben dem Erbe der 68er-Bewegung die Potenzdroge Viagra sowie fundierte sexualwissenschaftliche Überlegungen zum Thema Prostitution.
Der letzte Teil umfasst neben einer kritischen Würdigung der Psychoanalyse Siguschs beredte Verteidigung der Sexualwissenschaft als notwendigem Fachbereich. Neu ist das alles nicht, aber ein gelungener Überblick über das Lebenswerk eines engagierten Humanisten. Zudem wird klar, dass die Frage nach Grenzen und Formen der menschlichen Lust immer wieder neu gestellt werden muss – hoffentlich mit der gleichen Toleranz und Sachkenntnis wie in den Forschungen und Publikationen des großen Volkmar Sigusch.
Besprochen von Ariadne von Schirach
Volkmar Sigusch: Auf der Suche nach der sexuellen Freiheit. Über Sexualforschung und Politik
Campus Verlag, März 2011
294 Seiten, 24,95 Euro