Glaube, Identität und Toleranz

Von Maria Riederer |
Gotthold Ephramim Lessings "Nathan der Weise" plädiert auf eindrucksvolle Weise für religiöse Toleranz. Das Stück wird nur heute noch selten gespielt und in Schulen wenig gelesen. Für die Jugendbuchautorin Mirjam Pressler bleibt es dennoch hochaktuell und deshalb hat sie das Stück in einem Roman nacherzählt und einen anderen Ausgang hinzugedichtet.
"Ich muss unter dem Maulbeerbaum eingeschlafen sein, wo ich mich am späten Nachmittag, als die Hitze unerträglich wurde, zum Ausruhen hingelegt hatte, denn ich wurde von Schreien geweckt. Es waren hohe, schrille Schreie und ich hob unwillkürlich die Hände, um meine Ohren zu schützen."

Die Schreie, die den namenlosen Jungen wecken, kommen von Nathans Haus in Jerusalem um das Jahr 1192. Ein Feuer tobt in den Mauern, und die Schreie gelten Recha, der Ziehtochter Nathans, die sich noch im Haus befindet. Der Junge leitet in der Erzählung von Mirjam Pressler das Geschehen ein. Die Autorin hat ihn zu Lessings Figuren dazu erfunden, und in ihm macht sie gleich zu Anfang klar, was sie mit dieser Nacherzählung will: Die Personen sollen leben, sie sollen ein Innenleben erhalten und nicht nur einer großen Aussage dienen. Deshalb erzählt sie die Geschichte von Nathan und seinen Kindern aus der Sicht der beteiligten Personen.

Recha, das Pflegekind des jüdischen Nathan, wird gerettet - von dem geheimnisvollen Tempelherren, einem Christen. Das Drama ist schnell erzählt, doch dann kehrt Ruhe ein und durch die Stimme des Jungen ohne Namen lernen wir Nathan kennen. Am späten Abend kommen die beiden ins Gespräch: Das Findelkind und der Weise Nathan.

"'Wie heißt du eigentlich, Junge?', fragte Nathan. Es gibt Fragen, bei denen mir das Blut aus dem Köpf strömt und mein Mund so trocken wird, dass mir die Zunge am Gaumen klebt. Diese Fragen sind: Wie heißt du? Wer ist dein Vater? Aus welcher Stadt stammst du? Wenn mir jemand solche Fragen stellt, drehe ich mich um und laufe davon. Aber jetzt konnte ich nicht davonlaufen. Ich musste antworten. 'Ich heiße Jeled', sagt ich, 'Junge'.
'Das ist doch kein Name!', sagte Nathan. 'Welchen Namen hat dir dein Vater gegeben?' - Die Stimme kam mir nur mühsam aus der Kehle: 'Ich habe keinen Vater und keine Mutter. Ich weiß nicht, wer ich bin'."

Der Junge erzählt Nathan, wie er von Elijahu, Nathans Verwalter und seiner Magd Zipora vor dem Verhungern bewahrt und aufgenommen wurde.

"Möchtest du einen Namen haben?" fragte Nathan auf einmal mit einer sehr sanften Stimme. Ich erschrak: "Was für einen Namen?" fragte ich, "Ich weiß noch nicht einmal, ob ich Hebräer oder Muslim bin. Oder vielleicht sogar Christ." - Nathan lachte. "Egal, wer deine Eltern waren, ein Mensch braucht einen Namen. Such dir etwas aus, was dir besonders viel bedeutet." - "Regen", sagte ich, "Wasser, das vom Himmel fällt. Wasser, das jedes Feuer löscht." - Diesmal lachte er lauter. Er stand auf und legte mir die Hand auf den Kopf, als wolle er mich segnen. "Dann wirst du in Zukunft also Geschem heißen, Regen. Und weil wir alle Abrahams Söhne sind, heißt du Geschem Ben Abraham. Oder Geschem Ibn Ibrahim, je nachdem, wer dich fragt."

In diesem ersten Kapitel stößt Mirjam Pressler auf anrührende Weise die Frage an, die im weiteren Verlauf alle Beteiligten des Geschehens in Jerusalem berührt: Den christlichen Tempelherren, der Recha aus dem Feuer gerettet hat und nun unter seiner Liebe zu dem vermeintlich jüdischen Mädchen leidet. Recha, die selbst Christin ist, ohne es zu wissen. Daja, die Gefährtin Nathans, die mit den Kreuzfahrern nach Jerusalem kam, als Nathan gerade seine Frau und sieben Söhne verloren hatte - und bei ihm blieb. Den Patriarchen von Jerusalem Saladin, und den Sultan von Jerusalem, der Nathan schließlich die schwierige Frage stellt: Welche Religion ist die Wahre? Bei Lessing ist dies die Schlüsselfrage des Dramas. Mirjam Pressler lässt die Personen weiterfragen: Wer bin ich? Und was hat mein Glaube mit meiner Identität zu tun?

Als Nathan seine Ringparabel von der Wahrheit aller Religionen vorgetragen und damit Saladins Freundschaft gewonnen hat, lässt die Autorin ihn weiter sinnieren und bedient sich dabei ungeniert in der neueren Geschichte:

Nathan: "Ich habe einen Traum, dass eines Tages die Söhne von Juden, Muslimen und Christen miteinander am Tisch der Brüderlichkeit sitzen können. Ich habe einen Traum, dass sich selbst diese Stadt eines Tages in eine Oase der Freiheit und der Gerechtigkeit verwandeln wird. Aber es ist nur ein Traum. Die Wirklichkeit ist eine andere."

Nathan hat ein christliches Kind im jüdischen Glauben erzogen. Und er plädiert für die Toleranz zwischen den Religionen. Mirjam Pressler macht wahr, was sie für wahrscheinlicher hält als ein glückliches Ende: Nathan muss sterben. Wahrscheinlich durch die Hand eines Fanatikers. Ob der aus dem muslimischen oder dem christlichen Lager stammt, erfahren wir nicht. Lessing hatte sein Stück glücklich enden lassen:

"Unter stummer Wiederholung allseitiger Umarmungen fällt der Vorhang."

Bei Mirjam Pressler fällt kein Vorhang. Alles bleibt offen: Die Beziehung zwischen Recha und ihrem Retter, die Folgen des Mordes an Nathan. Rechas Schlusskapitel fällt dennoch wie eine kleine Heilsbotschaft aus. Und richtet sich vielleicht gerade an die jüngeren Leser, die sich - auch wenn sie nicht im Jerusalem der Kreuzritter leben - der Frage stellen müssen: Wer bin ich und was hat mein Glaube mit meiner Identität zu tun?

"Ich werde eines Tages einen Sohn haben. Ich werde ihn Nathan nennen, und ich werde ihn lehren, dass es nichts Größeres auf dieser Welt gibt als Liebe und Barmherzigkeit. Ich werde dafür sorgen, dass mein Vater in seinen Kindeskindern weiterlebt. Mein Vater hat nie vom Gott der Rache gesprochen. Immer nur vom Gott der Liebe."