Vom Rettungsanker zum Lifestyle
Polnisch, katholisch und tief religiös? Das war lange selbstverständlich. Aber heute leben junge Polen ihren Glauben anders und suchen neue Formen der Spiritualität. Marta Kupiec berichtet aus einer Gemeinde in Krakau.
Die kleine Krakauer St. Ägidius Kirche ist zu jeder Sonntagsmesse gut gefüllt. Wer keinen Sitzplatz gefunden hat, weicht in den Kirchenvorraum aus, wo Pfadfindergedenktafeln und Fahnen hängen. Katholizismus und nationale Identität waren in Polen schon immer ein unzertrennliches Paar. Als Polen für 123 Jahre von der Landkarte Europas verschwand, war es unter anderem der Glaube, der die Menschen zusammengeschweißt hat. Doch 100 Jahre nach der Wiedererlangung der Unabhängigkeit, hat sich vieles geändert, sagt der Dominikaner Tomasz Franc.
Franc: "Es ist überholtes Denken, Polen mit katholisch gleichzusetzen. Es ist auch ein Stereotyp, dass wir eine besonders gläubige Nation sind. Verglichen mit anderen europäischen Ländern sind wir allerdings eine kreative Nation, wenn es um den Glauben geht. Eine Untersuchung, die ich neulich gelesen habe, zeigt aber, dass polnische Jugendliche einer rasanten Säkularisierung ausgesetzt sind."
Katholisch? Na, klar! - Kirchgang? Na, ja ...
Diesen Trend bestätigt das Amt für Statistik der Katholischen Kirche mit Sitz in Warschau. In dem Land, in dem über 90 Prozent der Menschen sich als Katholiken bezeichnen, besuchen in einigen Gegenden nur etwa 40 Prozent regelmäßig eine Sonntagsmesse. Doch diese Zahlen sollten weniger ein Grund zur Sorge sein, als eine Herausforderung, meint Tomasz Franc.
Franc: "Die Menschen suchen heute ein tiefes Glaubenserlebnis, kein Massenangebot. Viele Polen sind im karitativen Bereich engagiert, andere wollen wiederum ihren Glauben erneuern - durch Exerzitien, Einkehrtage, Lobpreisgebet oder bei charismatischen Treffen. Den Wandel, der sich gerade vollzieht, würde ich so bezeichnen: Weg von einem Massenangebot, hin zu einer individuellen, freien Entscheidung. Und dieser Weg ist ein schwerer."
Die Suche nach passenden Online-Exerzitien oder Kommentaren zu unverständlichen Bibel-Passagen ist für viele junge, gläubige Polen ein Alltagsgeschäft. Sie wollen Kraft schöpfen in einer von Konsum und rasantem Lebenstempo bestimmten Welt.
Sinnsuche per Mausklick oder auf dem Pilgerpfad
Im Sommer sieht man die junge Kirchengemeinschaft auf dem Pilgerweg nach Tschenstochau – zur Schwarzen Madonna. Anna Cyran zieht der sogenannte "extreme Kreuzweg" an– damit ist ein nächtlicher Bußgang in der Passionszeit gemeint, bei dem die Teilnehmer eine Strecke von etwa 40 Kilometern in Einsamkeit und Stille zurücklegen. Und sie ist Fan von katholischen Social-Media-Angeboten.
Cyran: "Was ich beobachte, ist eine große Anzahl von Video-Bloggern, zu denen auch Priester wie Adam Szustak gehören. Ihre Botschaften sind für viele ein Denkanstoß, sich zu bekehren. Egal ob man im Hinterland wohnt oder gerade im Gebirge wandert, der Zugriff auf gute Predigten wird dadurch sehr erleichtert."
Eine Alternative für jene Gläubigen, die sich in ihrer Gemeinde nicht mehr zu Hause fühlen. Ihre Vorfahren konnten davon nur träumen, sagt die 35 jährige Grafikdesignerin. Deren Religiosität war eine ganz andere.
Sehnsucht nach einer liberalen Kirche
Cyran: "Für sie war der Glaube ein Rettungsanker, manchmal auch eine Flucht vor den alltäglichen Sorgen. Wenn sich ein junger Mensch heute entscheidet, seinen Glauben zu leben, folgt er oder sie nicht dem Prinzip ‚Wenn in Not, dann bete zu Gott‘. Es ist eine Entscheidung für einen bestimmten Lifestyle, die sehr bewusst getroffen wird, zumal junge Gläubige von Gleichaltrigen nicht selten diskriminiert werden."
Und das sind meistens Personen, die sich nach einer liberalen Kirche sehnen – die "ja" zu Abtreibung oder gleichgeschlechtlichen Ehen sagen würde, die sich weniger in die Politik einmischt.
Barbara Krzaklewska ist 29. Sie hat sich abgewöhnt, bei kontroversen Themen die Haltung ihrer Kirche kämpferisch zu vertreten. Stattdessen bemüht sie sich, ein Glaubenszeugnis abzulegen. Mit der Gruppe "Europe Waits" fuhr sie per Anhalter nach Frankreich, Litauen, Rumänien und Georgien - also dorthin, wo Glaube an Kraft verliert. Dieser missionarische Eifer unterscheidet ihren Glauben von dem ihrer Eltern, die zur Zeit des Kommunismus nicht reisen durften.
Glaube bröckelt, Traditionen bleiben
Krzaklewska: "In Polen ist die Kirche lebendig, zum Beispiel im Vergleich zu Dänemark, wo der Säkularismus sehr fortgeschritten ist. Es ist nicht selten, dass ein Priester für ein großes Einsatzgebiet zuständig ist und Laien seine Aufgaben übernehmen müssen – zum Beispiel Gebetsabende gestalten. Auch bei uns geht die Entwicklung in diese Richtung. Dennoch genießt ein Priester in Polen nach wie vor ein großes Ansehen."
Immer noch ist der Glaube in Polen ein Teil der Tradition, bestätigt Barbara Krzaklewska. Selbst diejenigen, die sich vom Glauben abwenden, feiern kirchliche Feste oder hängen an einigen Praktiken wie der Osterspeisensegnung. Doch die jungen Gläubigen suchten oft nach Tiefe, fügt sie hinzu.
Krzaklewska: "Gefragt ist ein gelebter Glaube. Kein Glaube aus Tradition, kein wöchentlicher Gang zu einer Sonntagsmesse, sondern ein konkretes Engagement."
Insel der Stille im Ansturm der Reize
Doch bei dem Aktionismus und der Vielfalt an Angeboten darf eines nicht verloren gehen – nämlich dass die Kirche ein Ort des Gebetes und der Stille ist, wie der 57 jährige Antoni Bartosz es formuliert. Der Direktor des Ethnografischen Museums in Krakau mag es lieber meditativ.
Bartosz: "Die Religiosität meiner Eltern war eine andere als meine. Sie konnten in einer leeren Kirche lange und inbrünstig beten. Für mich besteht das Hauptproblem darin, dass wir zu viele Impulse bekommen. Meine drei Kinder sind dauernd von Reizen überflutet. Die Älteren wiederum tun sich schwer mit dem Überangebot."