Eva Sichelschmidt, geboren 1970, wuchs im Ruhrgebiet auf. Nach der Gesellenprüfung zur Damenschneiderin zog sie 1989 nach Berlin und machte sich mit einem Maßatelier für Braut- und Abendmoden selbstständig. Es folgten Aufträge als Kostümbildnerin bei Film und Oper. Sie ist Inhaberin des Geschäfts Whisky & Cigars, und arbeitete als Repräsentantin des Berliner Auktionshauses Grisebach für Italien. Mit ihrem Ehemann Durs Grünbein und ihren drei Töchtern lebt sie in Rom und Berlin. "Die Ruhe weg" ist ihr erster Roman.
Der Herzinfarkt wird weiblich
Frauen holen bei den Herzerkrankungen auf. Früher waren es viel mehr Männer, die einen Infarkt bekamen – aber das ändert sich. Ein fragwürdiger Fortschritt der Gleichberechtigung, findet die Autorin Eva Sichelschmidt.
Neulich griff ich mir plötzlich ans Herz und dachte: Der Infarkt ist nahe. Wochenlang hatte ein Hinkelstein auf meiner Brust gelastet. Das ungute Druckgefühl war langsam von der Mitte des Brustbeins in Richtung Herz gewandert. Dann kam beim Luftholen noch ein Stechen hinzu, und eines Abends hatte ich ziehende Schmerzen im linken Arm, konnte ihn kaum mehr anheben.
Die schlimmen Körpersensationen machten mich immer verrückter, also begann ich zu googeln. Bluthochdruck, kalter Schweiß, bleiche Gesichtsfarbe, Schmerzblitze, die durchs Gehirn zucken. Klarer Fall: Schlaganfall. Herzerkrankungen bei Frauen treten immer häufiger auf, lese ich.
Wachsender Stress als einer der Risikofaktoren
"Der Herzinfarkt wird weiblicher", so die Überschrift eines Fachartikels. Das nenne ich mal eine perfide Form der Gleichberechtigung. Wie denn das?
Ein Grund dafür - neben den Risikofaktoren Pille, Alkohol und Rauchen - ist der wachsende Stress in Beruf und Alltag.
Der Stresslevel der Frauen ist in den letzten 30 Jahren enorm gestiegen. In den westlichen Bundesländern lag die Frauenerwerbsquote in den 70er-Jahren noch bei 45 Prozent, heute sind es fast 70 Prozent. Waren vor 40 Jahren die Frauen in beiden Teilen Deutschlands meistens die schlecht Bezahlten, bloße Zuarbeiterinnen der Männer in ihren Teilzeitjobs, änderte sich ihr Status mit dem stetig wachsenden Bildungsgrad und ihrem Ausbildungsniveau.
Frauen in Führungspositionen sind heute immer noch viel zu selten, aber es gibt sie, und es werden stetig mehr. Die Gleichberechtigung im Berufsleben schreitet nicht nur, sie joggt sportlich voran, was dem Herzen eigentlich gut tun müsste.
Doppelbelastung von Familie und Beruf
Weniger gut bekommt den Frauen allerdings die Doppelbelastung von Familie und Beruf. Interessant ist, dass die meisten Herzkomplikationen bei Frauen erst deutlich nach der Mitte des Lebens auftreten und dann statistisch betrachtet lebensgefährlicher verlaufen als bei den Männern.
Wenn sich die Hormone verabschieden, sinkt auch die Laune, der Lebensmut. Man wird dünnhäutiger. Nicht selten muss dann bereits ein Elternteil gepflegt werden, die Kinder haben ein kostenintensives Studium begonnen und im Job überholt einen bei der Beförderung mit Sicherheit die junge Kollegin.
All das trifft natürlich auch auf den männlichen Teil der Bevölkerung zu, keine Frage. Angeblich sind Frauen und Männer nun gleichgestellt, gleichberechtigt, damit aber auch gleichermaßen überfordert. Die Frauen noch ein bisschen mehr.
Welcher Mann steht täglich am Herd?
Denn Hand auf Herz: Im wirklichen Leben verdienen Männer auch heute noch in der Regel mehr Geld als Frauen und kümmern sich dabei weniger um die Familie. Viele Männer können zum Beispiel mittlerweile gut kochen. Die wenigsten jedoch stehen täglich am Herd, um ihre Lieben zu beköstigen, sondern flambieren allenfalls sonnabends ein Steak, damit der Freundeskreis applaudiert. Die Organisation der Familie, die Fürsorge für die Kinder und die Alten liegt immer noch in Frauenhand.
Echte Gleichberechtigung wird es erst geben, wenn auch Männer Kinder bekommen können. Davon ist aber vorerst nicht auszugehen. Auf die Quälerei einer Geburt würden sie verzichten.
Mein Herzinfarkt-Verdacht hat sich inzwischen erübrigt. Ein Physiotherapeut nahm sich meiner muskulären Verspannung an. Woher bekommt man denn solche Rückenprobleme, fragte ich ihn.
Da schaute er mich prüfend an und sagte: "Kann es vielleicht sein, dass Sie eine ziemliche Last auf den Schultern tragen?"