Gleichgeschlechtliche Lebensweisen

Homofeindlichkeit ist bis heute tief verankert

29:01 Minuten
Ein Passant überquert einen Zebrastreifen in den Farben des Regenbogens.
Im Jahr 2020 gaben in Umfragen rund vier Prozent der deutschen Bevölkerung an, homosexuell zu sein, weitere drei Prozent bezeichneten sich als bisexuell - eine breite Akzeptanz fehlt dennoch. © AFP / Georges Gobet
Von Maike Strietholt |
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Homofeindlichkeit hat eine lange Geschichte. Die Zahl der Gewalttaten gegen homo- und transsexuelle Menschen ist bis heute erschreckend hoch. Befeuert durch autoritäre Strömungen, die festhalten an überkommenen Geschlechterrollen und Männlichkeitsidealen.

"Der Kies knirscht unter meinen Füßen, während ich die düsteren Gassen Richtung Straße hinunterlaufe. Wenige Momente später bemerke ich die Silhouetten viele Meter entfernt von mir, in meine Richtung laufend. Früh am Morgen, Wochenende - es ist sicherlich nicht ungewöhnlich, dass Jugendliche um die Häuser ziehen. Dennoch fühle ich mich sofort unwohl. Es dauert nicht lange, da stehen mir ein paar junge Männer gegenüber. Rechts und links stoße ich an die Gruppe, die provokativ zusammengerückt ist und mir keine Möglichkeit gibt, weiterzulaufen. ‚Bist du schwul? Schwuchtel!‘" Alex, 21

"Was ich erlebt habe" - unter diesem Titel veröffentlicht das Berliner Anti-Gewalt-Projekt MANEO Gewalterfahrungen homo-, bi- und transsexueller Menschen. Bastian Finke leitet das Projekt seit 1990.
"Körperliche Übergriffe oder Diskriminierung am Arbeitsplatz, Stalking, Hass im Internet, Zwangsverheiratung, Rauswurf oder Flucht vor der Familie... Aber auch sexuelle Übergriffe. Das macht die Breite des Spektrums aus, wenn wir von Homophobie reden."
MANEO erstellt jährlich einen Bericht über vorurteilsmotivierte Gewalttaten in Berlin. Die jüngsten Zahlen stammen aus dem Jahr 2019.
"Im Jahr 2019 hatten wir fast 1000 Fälle und Hinweise entgegengenommen. Nicht alle konnten wir jedoch eindeutigen homo- oder transphoben Kriterien zuordnen - das heißt, wir haben 559 dieser Fälle dann konkret zuordnen können. Gegenüber dem letzten Jahr 2018 waren es dann fast 180 Fälle mehr. Auch in den letzten fünf Jahren rückschauend haben sich die Zahlen verdoppelt."
Fast 400 der Übergriffe waren gegen schwule Männer gerichtet, knapp 50 gegen lesbische Frauen und etwas über 40 Übergriffe waren transfeindlich. Die Täterschaft ist zu großen Teilen männlich:
"Es sind immer wieder junge Männer. Es tauchen relativ wenige Frauen als Täterinnen auf."

Sensibilität bei der Berliner Polizei deutlich gestiegen

Es handelt sich bei den gemeldeten Übergriffen vor allem um Nötigungen, Bedrohungen und Beleidigungen, dicht gefolgt von einfachen und gefährlichen Körperverletzungen. Und sogar Raubstraftaten sind dabei.
"Das mag sich nicht jedem einzelnen erschließen - was hat denn eine Raubstraftat mit Homophobie zu tun? Ein Beispiel: Ein schwuler Mann wird auf der Straße beleidigt, körperlich angegriffen, liegt auf dem Boden. Und dann wird ihm anschließend auch noch, weil das Portemonnaie aus der Tasche gefallen ist, dieses gestohlen", sagt Bastian Finke.
In der polizeilichen Kriminalstatistik tauche so etwas oft als reine Raubstraftat auf - ohne dass der homophobe Kontext deutlich wird. Insgesamt sei die Sensibilität gegenüber Homo-, Bi- und Transsexuellen, kurz LSBT, aber gerade bei der Berliner Polizei deutlich gestiegen, betont Finke.
"Deshalb haben wir hier in Berlin seit fast 30 Jahren LSBT-Ansprechpartner bei der Polizei - und zwar im vollen Berufsdienst, also nicht irgendwie so ein bisschen ehrenamtlich. Und wir haben seit 2012 LSBT-Ansprechpartner bei der Staatsanwaltschaft. Das ist auch ein ganz deutliches, sichtbares Zeichen, dass diese Delikte geahndet werden und dass auch Urteile veröffentlicht werden. Die - in Anführungsstrichen - 'schwule Sau' oder die 'Dreckslesbe' kann hier in Berlin locker 1800 Euro Strafe kosten."
Bundesweit ist das jedoch eine Ausnahme, und auch niedrigschwellige Anlaufstellen wie das Anti-Gewalt-Projekt MANEO gebe es noch viel zu selten, sagt Bastian Finke.
Dabei ist es gerade für Männer oftmals eine Überwindung, sich als Opfer bei der Polizei zu melden. Die Angst, dort eher belächelt zu werden als Hilfe zu erhalten, ist aus Finkes Beratungserfahrung auch nicht ganz unbegründet.
"Natürlich gibt es immer wieder konkrete Hinweise von Vorfällen, wo Polizei diese Hinweise von LSBT nicht ernst genommen haben und nicht tätig geworden sind. Wir vermuten, dass das Dunkelfeld mit 80 Prozent zu bewerten ist. Nur ein Bruchteil der Taten, die tatsächlich stattfinden, werden uns gemeldet oder bei der Polizei angezeigt."

Homofeindlichkeit hat eine lange Geschichte

Homosexuelle Menschen als gesellschaftlich marginalisierte und sogar von Gewalt auf offener Straße betroffene Gruppe - das war nicht immer so. In der Antike unterschieden weder Römer noch Griechen zwischen homo- und heterosexuellem Begehren, gleichgeschlechtlicher Sex war nicht unüblich.
Im Laufe des Mittelalters wurde aber vor allem der Analverkehr unter Männern als "widernatürliche Praktik" definiert und in den Bereich der Sodomie eingeordnet – was ihn mit sexuellen Handlungen an Tieren gleichsetzte. Bis ins Spätmittelalter drohte schwulen Männern in vielen Teilen Europas die Todesstrafe. Befeuert wurde diese Ächtung durch eine Passage im Alten Testaments, in der Beischlaf unter Männern als "Gräuel" bezeichnet ist.
Über die Verfolgung gleichgeschlechtlich liebender Frauen ist hingegen wenig bekannt. Der Begriff "Homosexualität" kam erst im Laufe des 19. Jahrhunderts auf. In der ersten Fassung des so genannten "Schwulenparagraphen" 175 aus dem Jahr 1871 wird er noch nicht verwendet - dort heißt es: "Die widernatürliche Unzucht, welche zwischen Personen männlichen Geschlechts oder von Menschen mit Thieren begangen wird, ist mit Gefängniß zu bestrafen."
Der Historiker Martin Lücke von der Freien Universität Berlin beschäftigt sich mit der gesellschaftlichen Situation von Homosexuellen seit der Zeit des Deutschen Kaiserreichs. "Man kann sagen, dass im Kaiserreich zum ersten Mal so etwas geschaffen wurde wie eine reichseinheitliche Strafbarkeit von Homosexualität - also dieser berühmt-berüchtigte Paragraph 175."
Eine weiße Rose liegt vor der Videoinstallation am Denkmal für die vom NS-Regime verfolgten Homosexuellen in Berlin. 
Gedenkort in Berlin: Schwule Männer und lesbische Frauen wurden im Nationalsozialismus verfolgt.© picture-alliance/ Klaus-Dietmar Gabbert
Tatsächlich galt der Paragraph 175 nur Männern - aus dem Grund, dass Frauen gar keine vom Mann unabhängige Sexualität zugewiesen wurde.
"Die Idee von Sexualität war die, dass vaginaler Geschlechtsverkehr stattfinden sollte. Und das konnten nach Aussage der Zeitgenossen Frauen gar nicht tun - das heißt, die waren aufgrund einer Stigmatisierung ihrer Sexualität von dieser Strafvorschrift ausgenommen. Gleichwohl war natürlich lesbische Sexualität in der Gesellschaft verpönt", erläutert Martin Lücke.

Verschärfte Verfolgung unter den Nationalsozialisten

Während des Nationalsozialismus wurde der Paragraph 175 noch weiter verschärft. Und auch Frauen liefen dann nicht mehr weiter "unter dem Radar".
"Schwule Männer und lesbische Frauen wurden im Nationalsozialismus auf sehr unterschiedliche Weise verfolgt. Bei Männern war es recht einfach, die konnte man nach Paragraph 175 aburteilen - das ist in sehr großer Zahl passiert", sagt Geschichtswissenschaftler Martin Lücke.
"Bei Frauen war es schwieriger, aber nur scheinbar schwieriger: Da griffen zum Beispiel Ideen von 'asozialem Verhalten'. Das heißt, wenn wir Frauen in Konzentrationslagern finden und dazu eine Aktenüberlieferung, ist von asozialem Verhalten die Rede. Und wenn man genauer in die Akte guckt, ist dann oft von lesbischer Sexualität die Rede. Das heißt, es hat auch auf der Basis unterschiedlicher Rechtsnormen stattgefunden."
Dass es im Kaiserreich 1871 überhaupt zur Schaffung des Paragraphen 175 kam, führt Martin Lücke auf damals vorherrschende Vorstellungen von Geschlecht und Sexualität zurück.
"Man kann sagen, dass es im Kaiserreich sehr eindeutige, verfestigte Geschlechterkonzepte gab: Männer mussten stark und aktiv sein, auch im Bereich der Sexualität. Frauen sollten passiv sein. Und homosexuelle Männer haben halt gegen diese Idee von Geschlecht und Sexualität verstoßen."
Ihnen wurden vielmehr weibliche Attribute zugeschrieben. Ein angstbesetzter Bereich, sagt Historiker Lücke.
"Das war immer wieder ein sehr stark wiederkehrendes Motiv, dass man Angst hatte, dass homosexuelle Männer, weil sie als verweiblicht galten, am Kern von militärischer Männlichkeit kratzen würden. Weil Homosexualität auch in den Wissenschaften als irgendetwas zwischen den Geschlechtern entworfen wurde. Zwischen so genannten Vollmännern auf der einen Seite und Vollweibern auf der anderen Seite. Das heißt, Homosexualität wurde auch mit Weiblichkeit bei Männern, Männlichkeit bei Frauen erklärt."

Massive Verfolgungen in den 50er- und 60er-Jahren

In den 50er-Jahren rückte das Konstrukt der Ehe in den Mittelpunkt der Betrachtung - in Gerichtsurteilen aus dieser Zeit ist nachzulesen, dass schwul fremdgehenden Männern die Vernachlässigung ihrer ehelichen Pflichten vorgeworfen wurde. Der Paragraph 175 blieb währenddessen in seinen Grundfesten bestehen – und somit auch die Gefängnisstrafe auf männliche homosexuelle Handlungen.
"Es gab in der 50er-, 60er-Jahren massive Verfolgungen, gerade in der Bundesrepublik. Etwas anders in der DDR, die haben das Strafrecht früher gelockert, ohne natürlich damit die gesellschaftliche Stigmatisierung aufzuheben", erklärt Historiker Lücke.
"Und eigentlich erst mit den 1970er-Jahren wurden Rechtsvorschriften gelockert, verschwanden dann aber erst 1994 aus dem Strafgesetzbuch der dann wiedervereinigten Bundesrepublik. Das heißt, man kann sagen, dass die Geschichte von Homophobie, wenn man das an einer staatlichen Repressionsmaßnahme festmacht, eine wirklich große und lange Kontinuität hat."

"Als das Essen kam, saßen wir uns einander zugewandt, unterhielten uns und hielten uns kurz an den Händen. Wir küssten uns zwischendurch. Nach einer kurzen Weile kam dann ein Mitarbeiter des Restaurants auf uns zu. Er sprach uns an. Er sagte mit einer Handbewegung auf uns zeigend, dass er ‚davon‘, also ‚unserem Verhalten‘, bitte weniger haben möchte und machte uns darauf aufmerksam, dass noch andere Gäste in dem Laden seien." Sophie, 39

Im Jahr 2020 gaben in Umfragen rund vier Prozent der deutschen Bevölkerung an, homosexuell zu sein, weitere drei Prozent bezeichneten sich als bisexuell - darunter jeweils etwas mehr Frauen als Männer. Verlässliche Daten über sexuelle Orientierung zu erheben, ist jedoch nicht einfach, da regelmäßig fünf bis zehn Prozent der Befragten keine eindeutige Angabe machen.
Als ausschließlich heterosexuell definieren sich nur etwa 85 Prozent aller Deutschen. Es sind also mindestens sieben Prozent der Bevölkerung, die sich auch zum gleichen Geschlecht hingezogen fühlen - ein nicht unerheblicher Anteil. Die gesellschaftlichen Ressentiments sind dadurch jedoch nicht verschwunden.
"Ich glaube, beim Blick auf Deutschland gibt es immer so einen sehr ambivalenten Blick, der natürlich einerseits die Errungenschaften anerkennen kann, die Verbesserungen der Lebenswirklichkeiten von LGBTIQ sehen kann. Dazu gehört die Ehe für alle, dazu gehört ein Adoptionsrecht", sagt die Autorin Carolin Emcke.
"Und trotzdem, natürlich leben wir in einer Gesellschaft, in der immer noch Homofeindlichkeit, Transfeindlichkeit tiefsitzend ist und in Sprache, Gewohnheiten eingelassen ist... In die Art und Weise, wie Witze gemacht werden, wie Schimpfwörter eingesetzt werden. Ich glaube, da gibt es eine große Diskrepanz zwischen der Wahrnehmung 'aha, da gibt es jetzt so ein, zwei Promis ...', und darüber glaubt man schon, sei die Homo- und Transfeindlichkeit erledigt in der Gesellschaft. Das ist natürlich nicht der Fall."

Carolin Emcke spricht von Homofeindlichkeit statt Homophobie

Den Begriff Homophobie, der ja eine Angst vor Homosexualität suggeriert, lehnt Emcke bewusst ab.
"Ich spreche nicht von Homophobie, ich spreche von Homofeindlichkeit. Wenn man sich diese autoritären, anti-aufklärerischen, rassistischen und zutiefst, zutiefst homo- und transfeindlichen Bewegungen anschaut, dann ist das ja nicht, dass die Angst hätten von irgendetwas! Die wollen, dass Menschen, die so begehren wie ich, nicht als gleichwertige Menschen anerkannt werden."
Die Publizistin Carolin Emcke bei der Talk-Serie "ABC der Demokratie" in der Cumberlandsche Galerie in Hanover, aufgenommen 2017
Die Autorin Carolin Emcke hat in einem Buch über ihr eigenes lesbisches Begehren geschrieben.© picture alliance / Holger Hollemann
Carolin Emcke schrieb unter anderem ein Buch über ihr eigenes lesbisches Begehren. Sie sieht auch in der heutigen Gesellschaft noch starke stereotype Zuschreibungen gegenüber Homosexuellen. Schwule Männer würden darin eher dämonisiert.
"Die werden eher als hypersexuell, als übergriffig, als potenziell pädophil dargestellt. Wohingegen lesbischen Frauen in diesem homofeindlichen Blick Sexualität eher abgesprochen wird. Also es wird eher suggeriert: Eine lesbische oder queere Frau, die hat eigentlich gar keine Lust!"
Und sexuelle Handlungen zwischen zwei Frauen würden oftmals vielmehr als Objekt männlichen Begehrens betrachtet. Auch außerhalb von Deutschland verstärkten sich solche Zuschreibungen in letzter Zeit eher noch, beobachtet Emcke.
"Wir erleben in Europa natürlich, in Polen oder in Ungarn, aber immer wieder auch hier, eine Ideologie, die diese Art des Begehrens entwertet, die sie marginalisiert. Es wird uns zugeschrieben, dass wir pervers seien, dass wir kriminell seien, dass wir Kinder umerziehen wollten..."

Gleichgeschlechtliche Lebensweisen in rund 70 Ländern unter Strafe

Als langjährige Kriegsberichterstatterin war Carolin Emcke auch mit existenziellen Bedrohungen konfrontiert.
"Natürlich bin ich auch sehr viel in Ländern unterwegs gewesen, in denen es ausgeschlossen war zu sagen, wie ich lebe oder wie ich begehre. Ohne zu riskieren, dass man eine Gewalterfahrung macht oder es für meine Gesprächspartner*innen ein ungeheures Risiko gewesen wäre, dass sie eingesperrt werden, dass sie vergewaltigt werden, dass sie gefoltert werden ..."
Und das sei teils sogar durch Gesetze legitimiert - bestätigt Bastian Finke vom Anti-Gewalt-Projekt MANEO: "Wir haben etwa 70 Länder, wo noch immer gleichgeschlechtliche Lebensweisen - vor allem immer wieder auch schwule Lebensweisen - unter Strafe stehen. Und in elf Ländern sogar noch immer unter Todesstrafe."
Die Publizistin Emcke betont, dass die Lebenssituation für homosexuelle Menschen in Deutschland vergleichsweise gut sei. Aber: "Natürlich ist der rechtliche Zustand unvergleichlich zu Russland, Afghanistan, Iran ... die Liste ist lang! Und trotzdem - auch hier gibt es Briefe, die einem nur wünschen, dass man deportiert würde!"

Abwertung anderer Menschen hängt mit Selbstwertgefühl zusammen

Der Drang, in Kategorien einzuordnen, Eigenschaften zuzuschreiben – ein zunächst einmal ganz natürliches Verhalten, sagt der Sozialpsychologe Ulrich Klocke von der Humboldt-Universität Berlin.
"Ob man jetzt von gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit oder von Vorurteilen redet - das basiert erst einmal darauf, dass Menschen, um ihre Umwelt erfassen zu können, kategorisieren. Und das ist auch erstmal nichts Schlechtes, weil, dadurch dass wir eben nicht unbegrenzte Verarbeitungskapazitäten haben in unseren Gehirnen, wir gar nicht anders können als zu vereinfachen."
Bei der Kategorisierung von Dingen sei das nicht weiter problematisch. Die Kategorisierung von Menschen berge jedoch stets die Gefahr der Abwertung von Gruppen.
Denn: "Bei der Kategorisierung von Menschen kommt hinzu, dass wir natürlich selber auch einer Kategorie angehören - also wir sind dann meinetwegen deutsch, männlich oder weiblich, heterosexuell ... Und Menschen haben die generelle Tendenz, sich selbst positiv zu bewerten. Und das können wir auch erreichen, indem wir andere Gruppen abwerten."
Zwei Männer küssen sich während eines Kussmarathons vor Publikum.
Kussmarathon am Internationalen Tag gegen Homophobie: In etwa 70 Ländern steht eine gleichgeschlechtliche Lebensweise noch immer unter Strafe.© AFP / Pedro Pardo
Diese Tendenz zur Abwertung ist jedoch durchaus nicht bei jedem Menschen gleich stark ausgeprägt, sagt Ulrich Klocke.
"Ob wir die praktizieren, hängt zum Beispiel auch davon ab, inwiefern wir uns in unserem Selbstwert oder Gruppenwert bedroht fühlen. Gerade wenn ich selber in meinem Leben verunsichert bin, wenn ich Angst habe, dass ich beruflich oder auch in meiner Beziehung nicht mehr genügend anerkannt bin, dann halte ich mich natürlich an den Identitäten fest, die mir noch bleiben. Dass man sagt: Naja, die sind ja nun mal eben auch nicht gleich - letztlich ist Heterosexualität höherwertiger als Homosexualität."
Ob Menschen eine solche Einstellung entwickeln, hängt maßgeblich von ihrer sozialen Prägung ab.
"Natürlich spielt auch noch eine Rolle das soziale Lernen. Also, dass wir sehr stark davon abhängig sind, was wir von unseren Eltern, von unseren Freunden, Freundinnen oder auch in den Medien transportiert bekommen. Und das ist einer der wichtigsten Einflussfaktoren: Ob man starre Vorstellungen davon hat, wie Männer oder Frauen oder Jungs oder Mädchen sein sollen. Dann ist natürlich die Abwertung von Lesben und Schwulen stärker ausgeprägt, als wenn man flexiblere Vorstellungen davon hat, wie Männer oder Frauen sein sollen", sagt Sozialpsychologe Klocke.

Homosexuelle Männlichkeit - ein Teil von Männlichkeit

Homosexuelle Menschen brechen mit tradierten Geschlechterrollen. In der Beobachtung von Autor und Journalist Nils Pickert hat Homofeindlichkeit aber vor allem auch mit der Hierarchisierung von Geschlecht zu tun.
"Wenn Sie sich die Abwertung von Homosexuellen anschauen, dann kreist die im Kern immer um eine Abwertung von Weiblichkeit. Da geht es um feminisiertes Verhalten, wenn Männer sich schminken, wenn sie mit hoher Stimme sprechen, wenn sie ein Faible für Mode haben - all diese Dinge, die wir klassischerweise mit Weiblichkeit verbinden, werden dann in den Männern abgewertet. Und es wäre ein Fehler, diese beiden Dinge nicht zusammen zu denken!"
Frauenfeindlichkeit und Homofeindlichkeit speisten sich aus der gleichen Quelle, so Pickert. Und das habe viel damit zu tun, dass in der klassischen Rollenverteilung Männern geradezu verheerende Eigenschaften zugeschrieben würden:
"Wir haben uns auch darauf verständigt, dass Männer für Gewalt zuständig zu sein haben. Wenn Sie Menschen vermitteln, dass sie qua Geschlecht dazu verpflichtet sind, anderen auf die Fresse zu hauen, dann laden Sie sie auch dazu ein, den anderen Leuten auch dann auf die Fresse zu hauen, wenn es überhaupt nicht angebracht ist", sagt Nils Pickert.
"Und was wir damit in Kauf nehmen ist, dass wir insbesondere Frauen und marginalisierte Gruppen als Opfer in Kauf nehmen. Und wenn wir alle anderen Problemlösungsstrategien wie Flucht oder sich trösten lassen oder weinen oder sich Hilfe suchen für ein bestimmtes Geschlecht auslöschen, dann schaffen wir die Probleme, die wir im Moment in der Gesellschaft haben."

Probleme durch gesellschaftliche Höherwertung von Männlichkeit

Und durch die gesellschaftliche Höherwertung von Männlichkeit herrsche unter Männern eine Art Panik, nicht dem Bild vermeintlicher geschlechtstypischer Stärke und Härte zu entsprechen.
"Das, was dann als stereotyp homosexuell gezeichnet wird, ist quasi das Antibild davon! Das ist das, was man tabuisiert und nicht sein darf. Sie glauben doch nicht ernsthaft, dass ich als 16-jähriger Junge mit meinem besten Freund Hand in Hand über den Schulhof gehen kann! Das ist nicht drin - was glauben Sie, was da los ist!? Und wir besitzen dann obendrein noch die Frechheit, den Jungen ins Gesicht zu sagen: Nicht die anderen sind das Problem, die dich abwerten und dich dafür als Schwuchtel beschimpfen, sondern du bist das Problem! Und das ist richtig, richtig mies."
Aus Pickerts Sicht macht eine solche gesellschaftliche Prägung aber auch heterosexuellen Männern kein Geschenk - im Gegenteil.
"Mein Problem war immer damit, dass wir Jungen und Männern beibringen müssen, wie unfassbar viel ihnen das von der eigenen Sicht auf Männlichkeit verbaut. Das bedeutet, schwule Männer als Vorbilder zu haben! Als Künstler zu feiern, als Tänzer, als Maler, als Politiker ... Die meisten Männer haben immer noch nicht begriffen, dass homosexuelle Männlichkeit ein Teil von Männlichkeit ist. Und dass das ein Raum ist, der unfassbar viel positive Dinge hervorbringen kann, die meinen Horizont erweitern können, die mich Dinge neu sehen lassen können ..."
Dabei ist das Bedürfnis, die festgefahrenen Rollen zu verlassen, seitens vieler Männer längst da. Das erfuhr Nils Pickert durch die große Resonanz auf sein Buch "Prinzessinnenjungs", in dem er für ein offeneres Männerbild warb:
"Bis auf den heutigen Tag bekomme ich Mails von Männern, die mir erzählen, dass, weil sie als Kind Lust hatten sich zu verschönern oder Trost gebraucht haben oder ein Kleid angezogen haben, dass ihre Väter sie mit Schraubenschlüsseln verdroschen haben oder mit Gürteln - das ist ein ganzer Ozean an Gewalt!"

"Ich bin ungeoutet, meine Eltern sind arabischer Herkunft, ich bin in Deutschland geboren und hier aufgewachsen. Ich habe gedacht, ich träume, als mich mein großer Bruder in der Nacht aufweckte und mich plötzlich ohrfeigte und mich fragte: ‚Du bist schwul?!‘ Ich weiß nicht, was mir geschah. Ich bin dann sofort wieder eingeschlafen. Als ich am nächsten Morgen aufwachte, hatte ich so sehr gehofft, dass es nur ein Traum gewesen war. Doch leider war dem nicht so." Ayman, 20

Ablehnung von Homosexuellen - insbesondere von Schwulen - ist vor allem unter Männern verbreitet. Der Sozialpsychologe Ulrich Klocke benennt weitere Faktoren, die Homofeindlichkeit verstärken können:
"Die über 60-Jährigen, da sind die Werte eher noch negativer. Dann gibt es immer mal wieder Hinweise, dass Menschen mit Migrationshintergrund negativere Einstellungen haben, was sicherlich damit zusammenhängt, dass sie überproportional aus Gesellschaften stammen, in denen noch etwas traditionellere Geschlechterrollen vorherrschen", sagt Klocke.
"Bildung spielt eine Rolle, also Menschen mit höherer Bildung neigen weniger stark zu Vorurteilen gegenüber lesbischen, schwulen, bisexuellen Menschen. Die politische Orientierung spielt eine Rolle - je stärker jemand politisch nach links orientiert ist, desto weniger Vorurteile hat er oder sie. Und Religiosität spielt eine Rolle - allerdings vor allem fundamentalistische Religiosität."
Gerade fundamentalistisch religiöse und rechtspolitische Strömungen erleben in den letzten Jahren einen enormen Aufschwung - und finden Überschneidungspunkte in der Bekämpfung von Gleichstellungsbewegungen. Das sagt die Journalistin Susanne Kaiser, die ein Buch über "Politische Männlichkeit" geschrieben hat.

Das Männliche wird erklärungsbedürftig

"Was diese Bewegungen hervorgerufen hat oder auch diesen autoritären Backlash, wie ich's ja auch nenne, das ist schon, dass politische Minderheiten in den letzten zwei Jahrzehnten deutlich sichtbarer geworden sind. Gerade auch Frauen sich unglaublich viele Rechte erkämpft haben, männliche Herrschaft ganz stark in Frage gestellt haben und man auch sieht, dass das Männliche nicht mehr unbedingt die Norm ist. Sondern es ist irgendwie erklärungsbedürftig geworden, und Frauen und andere politische Minderheiten geben sich lange nicht mehr damit zufrieden, einfach mitgedacht zu werden", sagt Susanne Kaiser.
"Und das führt dazu, dass Männer ihre privilegierte und dominante Rolle in Politik, Gesellschaft, Familie mehr und mehr verlieren - und dadurch werden manche einfach ansprechbar für autoritäre Bewegungen, die Männlichkeit sozusagen ins Zentrum ihrer Ideologie setzen."
Bei den von Kaiser analysierten autoritären Bewegungen finden sich die klar festgelegten binären Geschlechterrollen des frühen 20. Jahrhunderts wieder: Die soldatische Männlichkeit stehe einer eindeutig untergeordneten, häuslichen Weiblichkeit entgegen:
"Wichtig ist dabei, dass diese Geschlechterunterschiede so stark sind, dass sich da wirklich zwei Lager gegenüberstehen, dass es immer um Hierarchien geht ... Dass es irgendwie um Kontrollverlust geht. Und der ist ganz stark an Männlichkeit gebunden – einfach, weil Kontrolle etwas ist, was wir auch mit Männlichkeit verbinden."
Wenn Hierarchien auf unterschiedlich gewerteten Geschlechterrollen aufbauen, werde deren "Aufweichung" automatisch als Bedrohung empfunden - Kaiser erläutert:
"Ich würde sagen, dass das größte Thema, was dahintersteht, schon der Verlust von Privilegien ist. Denn Privilegien haben immer eine exklusive Gruppe, und die muss über irgendwas definiert werden. Alle Menschen, die da rausfallen aus dieser starren Zweigeschlechtlichkeit, das natürlich bedrohen! Weil ja dann offensichtlich wird, dass es vielleicht doch nicht so von der Natur gewollt ist, dass es Männer und Frauen gibt und starre Hierarchien zwischen beiden. Und diese biologistische Argumentation ist ja auch das letzte Argument, warum Menschen nicht gleichberechtigt sein sollen - das ist ja auch ein bisschen verzweifelt!"

Tradierte Rollenaufteilungen geraten ins Wanken

Genau diese verzweifelte Argumentation könne man aber gerade weltweit in der Propaganda rechtspopulistischer Regierungen beobachten, so Kaiser. Und das ginge auch stets mit der Bekämpfung von nicht-heterosexuellen Orientierungen einher.
"Die stärksten Mobilisierungen gab es tatsächlich mit LGBTQI*-Anliegen - das sehen wir überall in der westlichen Welt und auch in Lateinamerika. Da geht es immer um Frühsexualisierung, um sowas wie 'Verschwulung', oder 'Genderwahn'. Dass plötzlich nichts mehr sicher ist ..."
Vor allem nicht das klassische Konzept von Familie und deren Reproduktionsfunktion. Der gesellschaftliche Fortbestand werde also durch die als unnatürlich empfundene Homosexualität als gefährdet angesehen, sagt Susanne Kaiser.
Eine Argumentation, die auch von Seiten religiöser Fundamentalisten und Fundamentalistinnen bekannt ist - und sogar Ausdruck in tödlichen Anschlägen fand: Im Oktober 2020 überfiel in Dresden ein behördlich bekannter Islamist ein schwules Paar, ein Opfer starb an schweren Messerstichverletzungen. Im Sommer 2016 stürmte ein Anhänger des Islamischen Staates schwer bewaffnet einen Schwulenclub im US-amerikanischen Orlando und tötete 49 Menschen.
"Für religiöse Hardliner und Fundamentalisten ist das natürlich die Bedrohung schlechthin! Wie soll man das Patriarchat noch rechtfertigen, wenn Männlichkeit so bedroht ist. Dadurch, dass es Homosexuelle gibt, queere Menschen gibt, Transpersonen - das bringt alles in Gefahr an den fein säuberlich aufgeteilten Rollen. Da geht es einfach auch um Ressourcen! Um politische, um gesellschaftliche Ressourcen - aber auch um wirtschaftliche. Wenn das alles neu verteilt wird, da schwimmen manchen einfach die Felle weg!"

Wie lässt sich Homofeindlichkeit reduzieren?

Die gesellschaftliche Akzeptanz aller Geschlechter und sexuellen Orientierungen - schnell und konfliktfrei wird dieser Zustand sicher nicht erreicht werden. Da sind sich der Autor Nils Pickert und der Historiker Martin Lücke einig.
"Es entwickelt sich ganz viel voran, ich habe da auch große Hoffnung in die jüngere Generation. Aber ich sehe eben auch diese ganz große träge Masse, diese Rückzugskämpfe ..."
"Da muss man sich nichts vormachen: Wenn Gruppen anfangen, Sichtbarkeit herzustellen - die Konflikte werden dann auf neue Weise in die Öffentlichkeit getragen. Ein bisschen was ist erreicht - so Hälfte der Etappe, glaube ich. Und was jetzt mit dieser Sichtbarkeit passiert, da bin ich sehr gespannt, wie die nächsten Jahre das dann weiter entwickeln werden."
Aber welche Stellschrauben gibt es, um Homofeindlichkeit in der Gesellschaft zu reduzieren? Der Sozialpsychologe Ulrich Klocke und die Autoren Carolin Emcke und Nils Pickert:
"Bei den Handlungsmöglichkeiten ist eine der wichtigsten Möglichkeiten der persönliche Kontakt. Menschen, die in ihrem Freundeskreis, in ihrer Familie oder in den Medien immer wieder merken: ‚Ah ok, es gibt lesbische, schwule, Transmenschen‘ - in dem Moment nehmen Vorurteile ab. In Berlin hat sich auch als positiv herausgestellt, dass es an Schulen jetzt Kontaktpersonen gibt, die für Vielfalt zuständig sind. Beispielsweise wenn Jugendliche kurz vor ihrem Coming-out stehen oder wenn Lehrkräfte wissen wollen: Wie kann ich denn dieses Thema sensibel in meiner Klasse ansprechen?"
"Ich glaube, die zentrale Stelle ist in den Familien. Wie in den Familien gesprochen wird, nachgedacht wird, und ob die Idee von gleicher Würde dort vermittelt wird oder eben nicht."
"Ich bin sehr dafür, dass wir aufhören, Dingen ein Geschlecht zu geben, die keins haben - so wie Farben und Vorlieben und Betätigungen. Und dass wir den individuellen Personen erlauben, so zu sein wie sie sind, und das dann in unser Weltbild einbetten. Wenn wir das zu Ende denken und uns wirklich reinhängen, dann könnten wir eigentlich alle nur gewinnen! Ich gebe gerne zu, dass wir insbesondere auf Seiten der Männer eine Reihe von Privilegien aufgeben müssten - aber ich bin mir sehr, sehr sicher, dass sich das lohnt!"
Und zwar auch für Männer - davon ist auch die Journalistin Susanne Kaiser überzeugt:
"Was es Männer bringen würde, ist, dass sie aus diesem Kampfmodus herauskommen - es würde wahrscheinlich eine ganze Menge Entspannung bringen. Dass patriarchale Strukturen endlich mal beseitigt werden und Männer nicht mehr sexistisch und misogyn sein müssen, um in ihrer Männergruppe zu bestehen. Dass man nicht mehr homophobe Sprüche bringen muss - das hat ja Vorteile für alle. Das wäre einfach eine viel tolerantere und weniger zwanghafte Gesellschaft."

Regie: Friederike Wigger
Technik: Ralf Perz
Redaktion: Carsten Burtke
Sprecherin: Anjorka Strechel
Sprecher: Marian Funk

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