Ein Dorn im Auge
Der Holocaust, gleichgeschlechtliche Liebe – das sind in Moldawien noch immer Tabu-Themen. Die Moldawierin Nicoleta Esinencu bringt sie trotzdem auf die Bühne. In München ist nun eines ihrer Theaterprojekte zum Thema Homosexualität zu sehen.
"FUCK YOU, Eu.Ro.Pa!" – mit diesem Stück schockte Nicoleta Esinencu 2005 die internationale Theaterwelt. Heute zählt die Künstlerin aus der Republik Moldova zu den bedeutendsten osteuropäischen Theaterregisseurinnen. Den Politikern im eigenen oder im Nachbarland Rumänien ist die "Kulturrebellin" längst ein Dorn im Auge, denn ihre Kritik richtet sich nicht nur auf die Unzulänglichkeiten Europas, sondern vor allem auf den Alltag in ihrem eigenen Land. Um frei von staatlichen Subventionen arbeiten zu können, gründete sie in Chișinău ihre eigene Untergrundbühne "Spalatorie". Das Münchner Volkstheater präsentiert Moldaus provokanteste Theatertruppe nun im Rahmen seiner Reihe "Radikal jung 2014".
Alexandru Frolow ist einer der Stars im Theaterstück "Liebe Moldau, dürfen wir uns nur ein bisschen küssen?" Eigentlich ist er kein Schauspieler. Der 22-Jährige ist Teil eines Theaterprojekts, dass Geschichten aus dem wahren Leben auf die Bühne bringt.
Das Kind wird vom Vater geschlagen, weil die Mutter lesbisch ist
Frolow: "Dieses Theaterstück hat ein ganz klares Ziel: Unsere Gesellschaft muss ihre Haltung gegenüber sexuellen Minderheiten ändern. Wir wollen zeigen: Wir sind Menschen wie alle anderen. Deine sexuelle Orientierung kannst du nicht ändern, weil du damit geboren bist. Auch wenn es die Wenigsten zugeben, ich denke, viele sind eigentlich bisexuell."
Auf der Bühne erzählt Alexandru, wie sein Vater die Mutter geschlagen hatte. Wie er ihn selbst auch immer wieder verprügelt hatte. Damals war er erst elf Jahr alt. Der Grund: Seine Mutter hatte sich in eine andere Frau verliebt. Seine Mutter war eine Lesbe.
"Als ich entdeckte, dass meine Mutter lesbisch ist, habe ich erst versucht, das zu verheimlichen. Meine Mutter hatte ihre Freundin im Internet kennengelernt. Mein Vater las ihre Liebesbriefe, die sie per E-Mail geschickt hatte. Damit begann der Skandal. Er verprügelte sie und mich. Er wurde sehr gewalttätig."
Alexandru verstand erst nicht, was das war, eine Lesbe. Dann fand er eine Zeitschrift über Homosexuelle und Lesben. Er war schockiert. Mit Freunden darüber reden konnte er nicht.
"Ich hatte Angst. Ich war verwirrt und begann zu lügen. Meinen Freunden sagte ich erst, die Frau, die bei uns lebt, ist eine Cousine meiner Mutter. Anderen sagte ich, sie ist ihre Schwester oder sie ist ihre Freundin. Es dauert lange, bis ich allen sagen konnte: Die Frau ist die Freundin meiner Mutter. Meine Mutter ist eine Lesbe."
Das Stück löst einen Skandal aus
In ihrem in die EU strebenden Heimatland Moldova löste Regisseurin Nicoleta Esinencu mit diesem Stück erneut einen Skandal aus. Sie gilt als Enfant terrible der moldauischen Theaterszene. Nach ihrem Studium in Deutschland hätte sie hier bleiben können. Esinencu hat alle Angebote ausgeschlagen, um dem unabhängigen Theater in ihrer Heimat auf die Beine zu helfen.
Esinencu: "Wir haben eine deutsche Regisseurin eingeladen, an diesem Projekt mitzuwirken. Nachdem sie ihre Recherchen gemacht hatte, haben wir uns entschieden, ein Stück über die homosexuellen Gemeinschaften in der Republik Moldau zu machen. Auf diesem Recherchematerial basiert unser Theaterstück. Darin erzählen Eltern, wie sie herausfanden, dass ihr Sohn schwul ist. Wie schwer es erst für sie war, das zu akzeptieren und wie sie heute sehr gute Beziehungen zu ihrem Sohn und seinem Freund haben. Eine Lesbe erzählt ihre Geschichte, und ein 82-jähriger Schwuler spricht über das Leben von Homosexuellen zur Zeit der Sowjetunion."
Das Szene-Theater Spalatorie – übersetzt: die Wäschereien – bringt Themen auf die Bühne, die sonst in der Republik Moldau absolute Tabuthemen sind. Ihr erstes Stück über den Holocaust in der Republik Moldau war der Theaterskandal schlechthin in Chișinău . Im Vergleich dazu war ihr jüngstes Stück über sexuellen Minderheiten zwar gewagt, wurde aber vom Publikum schon deutlich besser angenommen, sagt Esinencu.
"Viele Homosexuelle haben Angst"
"Dieses Mal hat das Publikum nicht so extrem reagiert. Die Schauspieler haben auf der Bühne Suppe gekocht und nach dem Stück zum Essen eingeladen. Die Zuschauer waren wirklich interessiert, zu erfahren, wie Homosexuelle in der Republik Moldau heute leben. Das ist fast wie eine Fortsetzung des Stücks. Für mich war wichtig, dass Menschen zugestimmt haben, auf die Bühne zu kommen und ihre persönliche Geschichte zu erzählen. Für mich sind sie Helden. Das klingt vielleicht übertrieben, ist es aber nicht. Unsere Gesellschaft diskriminiert Homosexuelle so stark, dass die meisten in Angst leben. Diese Realität anzuerkennen ist viel."
Wie schwer das ist, weiß Alexandru Frolow aus eigener Erfahrung. Mit dem Stück will er nun auch andere überzeugen, respektvoller miteinander umzugehen.
"Ich lebe seit drei Jahren mit meiner Freundin zusammen und bin sehr glücklich mit ihr. Ich bin heterosexuell. Dass meine Mutter lesbisch war, hat mich überhaupt nicht beeinflusst. Außer dass ich dadurch toleranter geworden bin gegenüber sexuellen Minderheiten. Ich habe gelernt, niemanden zu diskriminieren und andere nicht zu beurteilen."