Gleichungen, die Ungeheuer bändigen
Die Entstehung eines mathematischen Theorems kann eine packende Geschichte sein. Der Mathematiker Cédric Villani jedenfalls erzählt in seinem Buch erfrischend und plastisch von Verzweiflung und Euphorie, Irrwegen und Durchbrüchen. Nur das Fachchinesisch erschwert bisweilen die Lektüre.
Es gibt keinen Nobelpreis für Mathematik. Eine der höchsten Auszeichnungen, die ein Mathematiker erhalten kann, ist stattdessen die Fields-Medaille, die alle vier Jahre verliehen wird. Cédric Villani, Jahrgang 1973, stets gut gekleideter Franzose mit kinnlangem, dunklem Haarschopf und den unverkennbaren Spinnenbroschen am Revers, erzählt in "Das lebendige Theorem" von seinem zweieinhalbjährigen Weg zu diesem begehrten Preis, der ihm 2010 verliehen wurde.
Dabei verschont er seine Leser nicht mit dem, woraus die Mathematik im Herzen besteht. Über mehrere Seiten druckt er Auszüge aus mathematischen Aufsätzen ab: Formeln, Integrale, Sätze, Definitionen, Beweise. Schon der Einstieg, als er ein Gespräch mit seinem Mitstreiter Clément Mouhot rekapituliert, stürzt einen in mathematisches Vokabular. Die beiden Mathematiker unterhalten sich über Positivität, Regularität, fraktionäre Diffusion, freien Transport, das Moser-Schema oder eine Matrix der Momente zweiter Ordnung – man belauscht ein Gespräch zwischen Experten, ohne erklärt zu bekommen, worum es geht. Und das immer wieder.
Das könnte ganz langweilig, furchtbar kryptisch, fremd oder hermetisch sein - stellenweise ist es das auch - aber gleichzeitig wohnt man ganz unmittelbar dem Entstehungsprozess dieses neuen Theorems bei, mitsamt den Phasen der Verzweiflung und der Euphorie, mit den Irrwegen genauso wie mit den Durchbrüchen. Villanis tagebuchartiger Bericht ist eine dichte Komposition, die sprunghaft-assoziativ Traumnotizen, Phantasiegeschichten für seine Kinder, E-Mail-Wechsel, Gedichte, Lieder und Abschnitte mit mathematischen Hintergrundinformationen aneinander reiht.
Ganz nebenbei lernt man so diesen etwas eitlen, aber liebenswürdigen Forscher kennen, der sich ganz und gar nicht als verknöcherter Bewohner des Elfenbeinturms präsentiert, sondern als fühlender, genießender Mensch, der in der Metro zur Entspannung Mangas liest, auf Strümpfen läuft, um seine Gedanken zu aktivieren, die Dunkelheit braucht, um nachzudenken, John Nash verehrt (den Mathematiker aus "A Beautiful Mind") oder zur Musik von Catherine Ribeiro in einen Arbeitsrausch verfällt, um seine Ungeheuer in Form von Gleichungen zu bezwingen.
Aber als er es - nach vielen Gesprächen und Kritiken - am Ende schafft, den Beweis zu formulieren (Worum ging es da nochmal? Irgendwas mit Bedeutung für die Plasmaphysik?), da steht längst nicht mehr die begehrte Medaille im Vordergrund, sondern die Lust dieses Forschers an der Mathematik und der Einblick in sein Denken.
Hat man danach mehr von der Mathematik und ihren unterschiedlichen Gebieten verstanden? Kaum. "Das lebendige Theorem" ist eher ein Buch zum Mitfühlen als zum Mitlernen. Das Mitfühlen gelingt Villani so gut, dass man ihm auch manch pathetische Entgleisung verzeiht ("Wichtiger [als der Beweis] ist die Verwandlung, die sich in meinem Innern vollzogen hat"). Ein plastisches, erfrischendes und unerwartetes Buch über Mathematik.
Besprochen von Gerrit Stratmann
Dabei verschont er seine Leser nicht mit dem, woraus die Mathematik im Herzen besteht. Über mehrere Seiten druckt er Auszüge aus mathematischen Aufsätzen ab: Formeln, Integrale, Sätze, Definitionen, Beweise. Schon der Einstieg, als er ein Gespräch mit seinem Mitstreiter Clément Mouhot rekapituliert, stürzt einen in mathematisches Vokabular. Die beiden Mathematiker unterhalten sich über Positivität, Regularität, fraktionäre Diffusion, freien Transport, das Moser-Schema oder eine Matrix der Momente zweiter Ordnung – man belauscht ein Gespräch zwischen Experten, ohne erklärt zu bekommen, worum es geht. Und das immer wieder.
Das könnte ganz langweilig, furchtbar kryptisch, fremd oder hermetisch sein - stellenweise ist es das auch - aber gleichzeitig wohnt man ganz unmittelbar dem Entstehungsprozess dieses neuen Theorems bei, mitsamt den Phasen der Verzweiflung und der Euphorie, mit den Irrwegen genauso wie mit den Durchbrüchen. Villanis tagebuchartiger Bericht ist eine dichte Komposition, die sprunghaft-assoziativ Traumnotizen, Phantasiegeschichten für seine Kinder, E-Mail-Wechsel, Gedichte, Lieder und Abschnitte mit mathematischen Hintergrundinformationen aneinander reiht.
Ganz nebenbei lernt man so diesen etwas eitlen, aber liebenswürdigen Forscher kennen, der sich ganz und gar nicht als verknöcherter Bewohner des Elfenbeinturms präsentiert, sondern als fühlender, genießender Mensch, der in der Metro zur Entspannung Mangas liest, auf Strümpfen läuft, um seine Gedanken zu aktivieren, die Dunkelheit braucht, um nachzudenken, John Nash verehrt (den Mathematiker aus "A Beautiful Mind") oder zur Musik von Catherine Ribeiro in einen Arbeitsrausch verfällt, um seine Ungeheuer in Form von Gleichungen zu bezwingen.
Aber als er es - nach vielen Gesprächen und Kritiken - am Ende schafft, den Beweis zu formulieren (Worum ging es da nochmal? Irgendwas mit Bedeutung für die Plasmaphysik?), da steht längst nicht mehr die begehrte Medaille im Vordergrund, sondern die Lust dieses Forschers an der Mathematik und der Einblick in sein Denken.
Hat man danach mehr von der Mathematik und ihren unterschiedlichen Gebieten verstanden? Kaum. "Das lebendige Theorem" ist eher ein Buch zum Mitfühlen als zum Mitlernen. Das Mitfühlen gelingt Villani so gut, dass man ihm auch manch pathetische Entgleisung verzeiht ("Wichtiger [als der Beweis] ist die Verwandlung, die sich in meinem Innern vollzogen hat"). Ein plastisches, erfrischendes und unerwartetes Buch über Mathematik.
Besprochen von Gerrit Stratmann
Cédric Villani: Das lebendige Theorem
Aus dem Französischen von Jürgen Schröder
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2013
298 Seiten, 19,99 Euro
Aus dem Französischen von Jürgen Schröder
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2013
298 Seiten, 19,99 Euro