„Gerade durch diese wechselseitigen falschen Erwartungen war von beiden Seiten diese Offenheit da und dieses Gefühl, man würde sich ja verstehen. Das war durchaus eine wichtige Grundlage dafür, dass es überhaupt zum Austausch gekommen ist.“
Globale Ideengeschichte
Als Kolumbus in Amerika landet, hält er es für Indien. Ein folgenreiches Missverständnis, typisch für die Neuzeit, sagt Historiker Martin Mulsow. © Getty Images / Heritage Images / Historica Graphica Collection
Die Aneignung des Fremden
31:07 Minuten
Wie radikal Fremdes verstehen? Diese Frage wirft die Neuzeit nicht nur für europäische Gelehrte auf, sondern für Menschen rund um den Globus. Dabei entstehen Missverständnissen - von ihnen erzählt der Historiker Martin Mulsow.
Als Kolumbus 1492 im heutigen Amerika landet, hält er diese neue Landmasse für Indien. Als einige Jesuiten im 16. Jahrhundert nach Japan gehen, vermuten sie in der dortigen Religion eine exotische Form des Christentums – und werden von den Japanern wiederum für Männer aus Indien gehalten. Und als ein Kreis um den Philosoph Gottfried Wilhelm Leibniz im 17. Jahrhundert auf alte chinesische Schriftzeichen stößt, tun sie alles, um darin christliche Symbole und sogar eine wahrhaftige Ursprache ausfindig zu machen.
Produktive Missverständnisse
Diese und andere Beispiele untersucht der Historiker und Philosoph Martin Mulsow in seinem Buch „Überreichweiten“ – und zeigt: Die Frühe Neuzeit ist voll von solchen Missverständnissen und Überinterpretationen. Denn mit den „Entdeckungsreisen“ und dem beginnenden europäischen Kolonialismus ist sie auch eine Zeit zahlreicher Erstkontakte zwischen einander fremden Kulturen, ja der Beginn dessen, was wir heute Globalisierung nennen.
Für die europäischen Gelehrten stellt sich damals ebenso wie für Vertreterinnen anderer Kulturen die Frage: Wie kann man das radikal Fremde verstehen? Auf beiden Seiten wird dabei zwangsläufig auf schon Bekanntes zurückgegriffen. Aber selbst die daraus folgenden Fehldeutungen können für den kulturellen Austausch produktiv sein, wie Mulsow am Beispiel der Jesuiten in Japan betont:
Ideengeschichte jenseits von Europa
Aus diesen gegenseitigen „Verflechtungen“ entwickelt Mulsow die Umrisse einer „globalen Ideengeschichte“. Entscheidend dabei ist für ihn aus europäischer Sicht, „dass wir auch die Perspektive der anderen Seite einnehmen und dann sehen, was wechselseitig passiert ist. Und das ist bisher in der Philosophiegeschichte noch nicht so stark angekommen: Wir fangen meistens bei den Griechen an und dann schauen wir, wie hat sich das Ganze entwickelt bis zu Wittgenstein, Heidegger, Habermas, und ziehen die großen Linien.“
Demgegenüber rückt Mulsow die Verbreitung von Ideen und Wissen in alle Richtungen und Weltregionen in den Fokus: „Das griechische Denken hat sich ja nicht nur nach Europa verbreitet, sondern auch nach Indien, China, Asien. Und was hat sich denn von Peru nach Mexiko oder von China nach Indien ausgebreitet, oder umgekehrt, wo wir als Europäer nicht mal involviert sind?“
Der Blick aus der Zukunft
Um eine solche globale Ideengeschichte in den Blick zu bekommen, plädiert Mulsow für eine breitere Allgemeinbildung: „Im 21. Jahrhundert können wir es uns einfach nicht mehr leisten, wenn wir über Philosophie- und Geistesgeschichte reden, solche großen anderen Kulturen wie die indische oder chinesische auszublenden.“
Bei „Sein und Streit“ spricht Martin Mulsow auch darüber, was eine solche globale Perspektive für das wissenschaftliche Schreiben bedeutet; darüber, weshalb sich unsere eigenen Missverständnisse und blinden Flecken wohl erst mit einigem Abstand zeigen werden und über die Schwierigkeit unser heutiges Wissen für die Zukunft zu bewahren.
Martin Mulsow: „Überreichweiten. Perspektiven einer globalen Ideengeschichte“
Suhrkamp Verlag, Berlin 2022
718 Seiten, 42 Euro