Gesine Palmer, geboren 1960 in Schleswig-Holstein, ist Religionsphilosophin. Sie studierte evangelische Theologie, Judaistik und allgemeine Religionsgeschichte in Lüneburg, Hamburg, Jerusalem und Berlin. 2007 gründete sie in Berlin das "Büro für besondere Texte" und arbeitet seither als Autorin, Trauerrednerin und Beraterin. Ihr wiederkehrendes Thema sind Religion, Psychologie und Ethik – im Kleinklein der menschlichen Beziehungen wie im Großgroß der Politik.
Wie China Europa den Rang abläuft
Chinesische Touristen nehmen Europa als Museum wahr: als Zeugnis einer ehemals einflussreichen Kultur. China dagegen sichert sich immer mehr Einfluss. Wie Europa in Zukunft globalpolitisch noch mitmischen könnte, weiß die Philosophin Gesine Palmer.
Vor etwa zehn Jahren erzählte mir ein Freund von einer Ägyptenreise. Er hatte die Pyramiden gesehen, diese gewaltigen Zeugnisse einer großartigen Kultur. Toll! Nur eines fand er wirklich schlimm: Es sei beschämend, mit anzusehen, wie diese lästigen Händler sich vor den Pyramiden um Kundschaft für ihre schlecht imitierten Nofretetebüsten und Sphingen balgten.
Um ihn zu ärgern, sagte ich: warte nur, bis deine Kinder vor dem Kölner Dom stehen und sich um chinesische Kunden für die von dir und deiner Frau in mühsamer Heimarbeit gefertigten Marienstatuetten kloppen. Eine Vorstellung, die der – durchaus postkolonial gebildete – Freund empörend fand. Immerhin hatte er viel in die Bildung seiner Kinder investiert, die würden schon was Ordentliches werden, und überhaupt, uns passiert so etwas nicht, uns doch nicht.
Das Ende der westlichen Hegemonialpolitik?
Heute sind wir da nicht mehr so sicher. Nicht nur sind die Feuer im Mittleren Osten mit den hergebrachten Mitteln westlicher Hegemonialpolitik – Eingreifen, Ausschaltung der Regierung, Installation eines neuen, westlich orientierten Regimes und allmähliche Entwicklung freundschaftlicher Beziehungen durch Hilfe beim Wiederaufbau – offenkundig nicht zu löschen. Spätestens seit dem Ende des arabischen Frühlings ist die Ohnmacht des Westens mit Händen zu greifen.
Dass Amerika mit seinem ausdauernd unberechenbaren Präsidenten sich zurückzieht, ist kaum schlimmer als die Politik seines Vorgängers. Dieser hatte mit Drohnen und wechselnden Koalitionen klargemacht, dass das Maximum an Sicherheit für die einen nun einmal die maximale Unsicherheit der anderen bedeutet. Die Antwort ist bekannt: Ein Chaos verschiedener radikalisiert religiöser Warlords, in dem die Helden der einen die Terroristen der anderen sind. Unsere westliche Maßnahme gegen diesen Kampf aller gegen alle wurde bekanntlich von Thomas Hobbes formuliert: Eine allen übergeordnete Gewalt muss sich bilden und dann entscheiden. Nur dass es dieses Mal womöglich nicht wir sind?
Chinesische Weisheit: zu jeder Kraft gibt es eine Gegenkraft
Denn aus dem Ferneren Osten scheint den zersprengten und von westlicher Hegemonie gebeutelten Völkern der Welt Rettung zu kommen: aus einem Staat, dessen Zivilisation etwas älter ist als unsere. Aus einem Land, in dem man nach dem Ende eines heißen oder kalten Krieges nicht hofft, alleinherrschend übrig zu bleiben – in dem man vielmehr damit rechnet, dass es zu jeder Kraft eine Gegenkraft gibt.
Lange vor den Scharmützeln mit der US-Regierung über Zölle und dergleichen hatte die Weisheit der chinesischen Politik erkannt, dass man in der Welt Zugang zu Märkten und Kooperationspartner braucht: Und die stets zu erwartenden Gegenkräfte lässt man besser von vornherein nicht in Terrorismus ausarten. Druck und Gewalt verwende man konsequent: gegen innere Gegner – zu denen nun auch weltöffentlich Taiwan gerechnet wird, ein weiteres Zeichen dafür, dass "wir" keine verlässliche Gegenkraft mehr bilden.
In einer – noch – eigenmächtigen Außenwelt aber lasse man die Gegenkräfte für sich arbeiten, indem man die Prinzipien von Yin und Yang durch Win und Win ergänzt. Mit diesem Erfolgsrezept haben die Chinesen sich die Kooperation vieler Entwicklungs- und Schwellenländer gesichert. Und wir stehen dumm da, als verlogene Streber. Denn spätestens seit der Ankündigung von Truppenabzügen aus Krisengebieten gilt: Wer die Wahl hat zwischen einer verlässlichen und einer unverlässlichen autoritären Macht über sich – der entscheidet sich natürlich für die verlässliche.
Das Prinzip individueller Menschenwürde
Allerdings hat der Wille zur Ausbreitung, solange er von einem autoritären Regime ausgeht, auch dann eine Tendenz zur Eliminierung aller Gegenkräfte, wenn er seine harten Seiten einstweilen vor allem nach innen kehrt. Die Wege der Machtakkumulation, ob sie nun in triumphaler Selbstüberschätzung oder umsichtig auf leisen Sohlen gegangen werden, ähneln einander in aller Welt. Was sich gegebenenfalls unterscheidet, ist die Frage, wie man wirklich mit Gegenkräften umgeht: will man sie "weg haben", "für sich arbeiten lassen" oder womöglich wirklich gelten lassen?
Das westliche Prinzip von demokratischer Freiheit und individueller Menschenwürde entspricht der Idee, die Interessen der anderen wirklich gelten zu lassen. Wenn wir das wieder lernen – dann haben wir vielleicht auch langfristig den chinesischen, afrikanischen und allen anderen Handelspartnern mehr zu bieten als kitschige Statuetten.