“Ich kenne die Pledging-Konferenzen in- und auswendig. Die Verantwortlichen des World Food Program erklären und verkünden, welche Hilfeleistungen in welchen Ländern gebraucht werden. Die Industriestaaten sagen dann, wie viel sie geben wollen.“
Alexander Behr: "Globale Solidarität"
© Oekom Verlag
Gemeinsinn neu denken
06:37 Minuten
Alexander Behr
Globale SolidaritätOekom Verlag, München 2022277 Seiten
20,00 Euro
Wie lässt sich Solidarität heute denken und praktizieren? Diese Frage treibt den Wissenschaftler und Journalisten Alexander Behr in seinem neuen Buch um. Er ist selbst seit Jahren mit diversen sozialen und ökologischen Bewegungen verbunden.
Mit “Globale Solidarität“ oder, wie es im Untertitel heißt, “Wie wir die imperiale Lebensweise überwinden und die sozial-ökologische Transformation umsetzen“, begegnet uns ein Titel, unter dessen Gewichtigkeit man schier zu verzweifeln droht.
Von globalen Fragen bis globaler Welt, globaler Zukunft und globalem Untergang drängt sich das Unbewältigbare auf, eine monströse Aufgabe, so will es scheinen, von Fachleuten und alternativen Nobelpreisträgerinnen besprochen, von politischen Giganten unbewältigt und gleichzeitig beschworen.
Wenige profitieren, viele gehen leer aus
Eine "sozial-ökonomische Transformation", das klingt so fundamental wie den Gegensatz von Kapital und Arbeit abschaffen. Und eigentlich ist diese Transformation auch dermaßen fundamental gemeint. Der Autor, Alexander Behr, geht von einer Bestandsanalyse aus, in deren Kern das System des Wirtschaftens heute davon gekennzeichnet ist, dass “wenige profitieren“ und “viele leer ausgehen“. Dass ein dem System immanenter Zwang herrsche, beständig Wachstum und Expansion zu generieren, eine systemgegebene Determinante, die notwendigerweise zu Rücksichtslosigkeit auch an den natürlichen Ressourcen führe, zur Zerstörung der Natur und zur Klimakatastrophe.
Die Fortexistenz der privaten Aneignung des gesellschaftlichen Reichtums, sagt Behr, hat in den letzten Jahrzehnten zur Herausbildung der Gegenpole geführt: Eine weltweit anwachsende Verarmung gegenüber der fortschreitenden Existenz abgeriegelter Wohlstandsinseln. Diesen Zustand als “unsolidarisch“ zu bezeichnen, ist sicherlich zutreffend.
Insbesondere wird die Zeit von 1990 bis 2019 in den Focus gerückt. Während sich die weltweite Wirtschaftsleistung, also das globale Bruttoinlandsprodukt (BIP) vervierfacht hat und das globale Handelsvolumen um mehr als das Fünffache gestiegen ist, seien es Hunderte Millionen Menschen, die von Hunger und Elend betroffen sind.
Keinerlei Abmilderungen
Mahatma Ghandis Satz: “Die Welt hat genug für unsere Bedürfnisse, aber nicht für unsere Gier" wurde nicht im Laufe der Entwicklung des Kapitals abgemildert oder hinfällig. So konstatiert der Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen in seinem Resümee des Jahresberichts 2020. Es habe kaum Fortschritte im Kampf gegen die globale Armut gegeben.
Im freien Fall hingegen befanden sich die Unternehmenssteuersätze, wenn hier ein Rückgang von über 40 Prozent im Jahr 1980 auf 24,4 Prozent im Jahr 2019 zu verzeichnen ist. Nur 3,3 Prozent des weltweiten Bruttoinlandprodukts (BIP) wären im Jahr 2013 nötig gewesen, “um alle Armen über eine menschenwürdige Armutsgrenze von 7,40 Euro pro Tag zu heben.“ Der Autor bezieht sich hier auf Jason Hickel von der Universität London.
Weltweit sei davon auszugehen, dass die Armut in den kommenden Jahren zunehmen werde, infolge der Corona-Krise, des Krieges gegen die Ukraine und nicht zuletzt aufgrund der Klimakrise. Wie darauf antworten?
Der Schweizer, Jean Ziegler, Soziologe und Mentor Alexander Behrs, kommt zu Wort: Er zieht ein niederschmetterndes Fazit seiner Tätigkeit für das Welternährungsprogramm WFP:
Für die Zeit von März bis September 2017 zum Beispiel waren vier Milliarden US-Dollar gefordert worden. Ziegler darüber, was tatsächlich zur Verfügung gestellt wurde: „Insgesamt 262 Millionen US-Dollar. Das Todesurteil für Millionen von Menschen ist also am 23. März gefallen.“
Die Konzentration von Vermögen
Unter Bezugnahme auf den World Inequality Report 2018, den eine Gruppe rund um den Ökonomen Thomas Piketty erstellte, fasst der Autor zusammen: Am meisten haben diejenigen profitiert, die schon reich waren. Auch nach dem Oxfam-Bericht lässt sich eine Steigerung des Vermögens von Milliardärinnen und Milliardären nachzeichnen, das zwischen 2007 und 2019 um 20 Prozent anstieg. Die Rede ist hier von Deutschland. Damit liegen die Milliardärinnen und Milliardäre in Deutschland rund acht Prozent über dem weltweiten Durchschnitt des Vermögenszuwachses aller Milliardärinnen und Milliardäre:
"Das reichste Zehntel der deutschen Gesellschaft besitzt allein zwei Drittel des gesamtgesellschaftlichen Reichtums. "
Als besonders profitabel hat sich hierbei in Deutschland der Lebensmittelsektor erwiesen: die Schwarz-Gruppe, Lidl, Kaufland, Aldi Süd und weitere. Wie sich der Kontrast zu den Arbeitsverhältnissen einer Angestellten des 50.000 Beschäftigte umfassenden Imperiums gestaltet, ist unschwer vorzustellen. Eine langjährige Aldi-Verkäuferin berichtet:
"Wir kommen früher zur Arbeit, verzichten auf unsere Pause, gehen später nach Hause und lassen uns während dieser Zeit bis an die Schmerzgrenze zu Höchstleistungen hetzen.“
Alexander Behr nennt seine Bestandsaufnahme "Vielfachkrise". Und mit Verweis auf Ulrich Brand und andere: verursacht durch die „imperiale Lebensweise“. Stattdessen versteht sich der Autor als Fürsprecher des solidarischen Teilens beziehungsweise einer solidarischen Arbeitsteilung und staatenunabhängiger sozialer Bewegungen. Keineswegs sei dieser Gedanke neu, konstatiert er und bezieht sich auf die Konstruktion und Geschichte der Internationale und deren Scheitern.
Eine neue Internationale?
Dies sei erforderlich, ein sich solidarisch mit den antikolonialen Bewegungen verbindender Zusammenschluss, verstanden als eine globalisierungskritische Bewegung, deren Inhalt es sei, auch Krisen emanzipatorisch zu bewältigen. Mit dem Philosophen Axel Honneth gesprochen könne das bedeuten, “die individuelle Freiheit nicht als eine private Interessenverfolgung verstehen, sondern als ein solidarisches Sich-Ergänzen“.
Behr bezieht sich im Besonderen auf eine Generation, die in Heiligendamm, Genua oder Hamburg sozialisiert wurde, durch die Proteste gegen die G-8-Treffen. Die Orte stehen für die Klima-, Anti-Rassismus- und No-Border-Bewegung - keine Grenzen.
Wie soll das praktisch gehen? Transnationale Netzwerke werden benannt wie das Alarm Phone, eine Hotline für Bootsflüchtlinge in Not, die Initiative Solidarity Cities oder die Charta von Palermo, die die Einbürgerung, das Bleiberecht und die Freizügigkeit von Einwanderndern fordert sowie die Abschaffung der Restriktionen.
Aktive Bewegungen
Eine europäische Evakuierungsaktion sei nötig, um die Schande der Camps auf den griechischen Inseln zu beenden. Mehr als 10.000 Menschen demonstrierten in Berlin gegen die Untätigkeit der Regierungen, als im griechischen Moria Camps abbrannten und die Menschen außerdem der Pandemie ausgesetzt waren. Auf der juristischen Ebene wird eine Gesetzgebung vorgestellt, wie etwa das 2017 in Frankreich beschlossene “Gesetz zur Sorgfaltspflicht“, mit dem es gelingen kann, Verbrechen, die Konzerne im Ausland begangen haben, anzuklagen.
2018 verklagte eine Menschenrechtsorganisation den französischen Ölmulti TOTAL wegen Menschenrechtsverletzungen und Umweltzerstörungen in Uganda. Ein Urteil im niederländischen Den Haag gegen Shell führte zu Entschädigungszahlungen an Nigeria, vorangetrieben unter anderem von der NGO Friends for the Earth.
Diese und andere Erfolge der sich international verstehenden Solidaritätsbewegung werden vorgestellt, die Arbeit von medico international, Pro Asyl und anderen ausdrücklich gewürdigt. An anderer Stelle erfahren wir von den Kämpfen einer spanischen Landarbeitergewerkschaft, die sich gegen die hemmungslose Ausbeutung von Geflüchteten, insbesondere Menschen auf den Orangenplantagen einsetzt.
Zutreffend kommentierte Carola Rackete, die Kapitänin, die sich im Jahr 2019 einem Verbot Italiens widersetzte und mit 53 aus Seenot Geretteten den Hafen von Lampedusa anlief, das Buch mit den Worten, es vermittele die Ideen der sozial-ökologischen Transformation, ohne sich nur auf Theorie zu beschränken.
Viele praktische Beispiele zeigen, wie globale Solidarität bereits gelebt wird, und ermutigen dazu, selbst aktiv zu werden.
Resümierend kann man sagen: Ökologie und soziale Gerechtigkeit global zusammendenken und -leben sind die Botschaften dieses Buches.