Globalgeschichte

Den nationalen Blick überwinden

Eine Welt-Karte von 1682 aus Amsterdam.
Der Blick auf die Welt: Karte von 1682 aus Amsterdam. © CPA Media/Pictures From History
Von Johann Tirnthal |
Geschichte wird meist aus nationalstaatlicher oder eurozentrischer Sicht geschildert. In den letzten Jahren versuchen aber immer mehr Historikerinnen einen neuen, globalen Blick auf Vergangenes zu werfen. Das ist aufgrund der Quellenlage gar nicht so einfach.
Das Zentrum der Universität Wien ist ein großzügiger Arkadenhof. Rund um den grünen Hof, auf dem die Studierenden Kaffee trinken, stehen unzählige Büsten und steinerne Reliefs . Sie erinnern an berühmte Wissenschaftler, die hier gewirkt haben. Sigmund Freud, der Erfinder der Psychoanalyse, ist dabei, oder auch der Wissenschaftstheoretiker Erwin Schrödinger. 154 Männer sind es. Sieben Frauenbüsten wurden im Jahr 2016 hinzugefügt. Eins haben alle hier geehrten Wissenschaftler gemein: Sie sind weiße Europäer.
"Wo, von welchem Blickpunkt aus, untersuche ich eigentlich meine Gegenstände? Da passiert immer sehr, sehr viel, ohne dass man überhaupt für sich selbst reflektieren kann, ob das in dem Moment dann jeweils das Beste ist. Man ist da ja manchmal mit gehangen und mit gefangen. Gerade wenn man sich jetzt einer – wie ich finde – außerordentlich wichtigen Geschichte wie der Globalgeschichte widmet, gerät man in ein bestimmtes Fahrwasser, und das ist manchmal ein bisschen – glaube ich – unkontrollierbar", sagt Anna Echterhölter.
Für sie ist es ein Problem, wenn Wissenschaftler die weiße, koloniale Prägung der westlichen Wissenschaft nicht hinterfragen. Anna Echterhölter ist Professorin für Wissenschaftsgeschichte an der Universität Wien die es seit 1365 gibt – damit ist sie die älteste Universität im deutschen Sprachraum.
Heute kann man hier, wie an vielen Universitäten rund um die Welt, ein Masterstudium in "Globalgeschichte" belegen. Die lange Reihe weißer Männer, die hier geforscht und gelehrt haben, ist dafür aber kein einfaches "Fahrwasser", wie Anna Echterhölter das nennt. Und das ist an vielen Universitäten ein Problem.
"Irgendwann war ich mal auf einer Tagung, die auch versucht hat, den Rückblick zu wagen, wo es nicht nur darum ging, was ist jetzt der Anspruch der Globalgeschichte, sondern was sind eigentlich die Bücher, die hinten rauskommen und wer kann diese Bücher eigentlich schreiben. Und da stellt man dann fest, dass das vor allen Dingen fortgeschrittene Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen sein müssen. Also, die auch außerordentlich viele Sprachen kennen, die sich in vielen, vielen Regionen auskennen müssen, also, es ist ja eigentlich eine strukturelle Überforderung. Man hat so ein bisschen das Problem, wenn man aus dieser größten möglichen Perspektive schaut: Was sind denn dann eigentlich die interessanten Resultate?"

Geschichten aus anderen Weltregionen

Es könnten Geschichten aus Weltregionen sein, die bisher nicht im Fokus der Geschichtswissenschaft standen. In den vergangenen Jahrhunderten wurde viel über Europa und die USA erzählt. Wenn nun Historiker und Historikerinnen von Europa und den USA aus versuchen, neue Geschichten über andere Weltregionen zu erzählen, müssen sie vorsichtig sein. Denn die Geschichtswissenschaft arbeitet meistens mit Schriftdokumenten. Da spielt die Sprache eine große Rolle. Und die Frage, wer überhaupt Schriftdokumente hinterlassen und aufbewahrt hat. Da kann es passieren, dass Historikerinnen oder Historiker, die über eine ehemalige Kolonie wie Indien schreiben, hauptsächlich Quellen der Kolonialmacht England verwenden.

Natürlich kann man eine Frage wesentlich schneller anhand der englischen Quellen der British Library behandeln, wo man professionelle Hilfe, eine traumhafte Arbeitsatmosphäre und alle technischen Hilfsmittel vorfindet, als wenn man sich in einem indischen Provinzstädtchen durch Bände persischer Korrespondenz wühlt, ohne eigenen Tisch, aber mit Gastrecht am Schreibtisch des Archivdirektors, mit einem Kopierer der allenfalls die Hälfte des Jahres funktioniert und oft noch ohne Klimaanlage.

Das schrieb die Historikerin Margrit Pernau schon 2004, als der Begriff "Globalgeschichte" sich gerade verbreitete, in ihrem Aufsatz "Global History: Wegbereiter eines neuen Kolonialismus?". Der Text warnte vor 14 Jahren davor, dass sich durch den Anspruch der Globalgeschichte, ganz große Weltregionen zu überblicken, eine neuartige koloniale Perspektive verbreiten könnte.

Wenn die historischen Quellen fehlen

Inzwischen behandeln viele das Thema sensibler und versuchen, auch nicht-weiße Perspektiven miteinzubeziehen. Das kann auch wegen fehlender Quellen sehr schwierig sein, meint Anna Echterhölter. Sie hat das bei ihrer Erforschung der Geschichte von Deutsch-Neuguinea erlebt, einer häufig übersehenen Kolonie des deutschen Kaiserreichs im Südpazifik.
"Was macht man mit diesen Fehlstellen der Dokumente? Wo man eigentlich die Person, die man am dringendsten befragen müsste, eigentlich überhaupt nicht mehr erreichen kann. Und wenn man da dem Kolonialarchiv folgt, und wenn man dann vielleicht die Memoiren dieser Verwaltungsbeamten oder der Kapitäne der großen Schiffslinien liest, da kommt man nur bis zu einem bestimmten Grad auch wirklich an die Realität dieser Kolonie heran. Man hat immer wieder diesen männlichen, weißen Blick auf vermeintlich ganz anderes geartete Personengruppen. Und um diese Perspektive zu durchbrechen kann es eben sehr, sehr hilfreich sein, über die Materialitätsgeschichte zu gehen."

Der Blick aus der "Froschperspektive"

Die Materialitätsgeschichte als Ausweg aus der kolonialen Perspektive – Das bedeutet konkret, dass man beispielsweise Gegenstände wie Münzen untersucht oder auch Grundbücher, Arbeitsverträge und Bauprojekte. In den Dokumenten, die den Alltag in der Kolonie geregelt haben, versucht sie die Spuren der indigenen Geschichte und auch des Widerstands gegen die Kolonialherren wiederzufinden.
Sie nennt das die "Froschperspektive" im Gegensatz zur "großen Reiseflughöhe" vieler Globalhistoriker, die viel zu große Gebiete gleichzeitig überblicken wollen. Und gerade diese Froschperspektive der Globalgeschichte sei wichtig für unsere Gesellschaft, vor allem für die junge Generation.
"Es ist ja schon eine neue Sichtbarkeit auch für völlig entlegene – von hier aus gesehen entlegene – Gebiete, für auch kleinere Vorkommnisse. Und ich hätte das Gefühl, dass das ein gewissermaßen auch sehr, sehr schöner Blick ist, der Spuren hinterlässt. Vor allen Dingen, wenn man dann schaut: Was machen Geschichtslehrer und Lehrerinnen? Das ist ja wahrscheinlich, muss man ja bescheidener Weise sagen, wenn man sich die Auflagenzahlen von Büchern und Studien anschaut, die größte Breitenwirkung, die entstehen wird von der Globalgeschichte, und wenn man dann eben Schüler in diesem Blick trainiert, das ist doch vielleicht nicht wenig."
Trotz aller Schwierigkeiten hat Anna Echterhölter also viel Hoffnung in die Globalgeschichte: Wenn heute Historiker und Historikerinnen anders auf die Welt schauen als in den vergangenen Jahrhunderten, denken morgen vielleicht neue Generationen anders über die Welt: weniger eurozentrisch.
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