Globalisierung

Demokratien brauchen Grenzen

Ein deutscher Grenzpfahl am Oderufer markiert die Grenze zwischen Deutschland und Polen.
Grenzen sind durchlässig - aber nur auf dem Weg raus, nicht rein © picture alliance / JOKER
Von Stefan Reinecke · 03.08.2018
Das Recht auf Ausreise gehört ausdrücklich zu den allgemeinen Menschenrechten. Ein Recht auf Einreise gibt es aber nicht. Das ist kein Skandal, sondern nachvollziehbar und hat Folgen über die man diskutieren muss, findet der Autor Stefan Reinecke.
1962 prägt der Medientheoretiker Marshall McLuhan den Begriff "globales Dorf". Damals existierte noch kein Internet, die Welt war in Blöcke gespalten und von unüberwindbaren Grenzen zerteilt. Mehr als 50 Jahre später erkennen wir McLuhans visionäre Kraft. Heute zirkulieren Waren in enormen Mengen in rasantem Tempo um den Globus. Autos oder Handys werden längst nicht mehr in einem Land hergestellt, sie sind Produkte globaler Arbeitsteilung. Das Internet lässt, was früher fern und unerreichbar war, nah erscheinen.

Das globale Dorf ist Wirklichkeit

Und wir befinden uns erst am Beginn dieser Entwicklung. Die digitale Revolution wird die Möglichkeit globaler Kommunikation weiter beschleunigen, räumliche Distanzen zweitrangig erscheinen lassen, kulturelle Unterschiede verflüssigen, Informationen zeitgleich global verfügbar machen.
Hinzu kommt: Mit dem Klimawandel existiert ein globales Problem, für das staatliche Grenzen ohne Belang ist. Das globale Dorf ist keine originelle medientheoretische Metapher mehr, sondern Beschreibung des Faktischen. Nur für Menschen gelten, oft anders als für Informationen und Waren, meist die alten Grenzregime. Auch im globalen Dorf wollen sich viele Bewohner der nobleren Vierteln die Habenichtse aus den ärmeren Quartieren vom Leib halten.

Ein Recht auf Migration

Das führt zu einer grundsätzlichen Frage: Gibt es das Recht, staatliche Grenzen zu ignorieren - also ein Recht auf Migration? Die Antwort hat etwas Flirrendes, Ambivalentes, jedenfalls wenn man die Sache normativ betrachtet und nicht, wie es leider Mode ist, bloß opportunistisch danach schielt, wie man Rechtspopulisten besänftigt. Die Vereinten Nationen beschlossen 1948 die Allgemeinen Menschenrechte.
Im Zweiten Weltkrieg waren mehr als 50 Millionen vor Terror, Krieg, Verfolgung geflüchtet oder als Zwangsarbeiter verschleppt worden. In Artikel 13 der Allgemeinen Menschenrechte heißt es: "Jeder hat das Recht, jedes Land, einschließlich seines eigenen, zu verlassen sowie in sein Land zurückzukehren." Es gibt somit das Menschenrecht auf Ausreise.

Es gibt kein Recht auf Einreise

So haben wir es normativ mit einer etwas verwirrenden Lage zu tun. Es gibt in der UN- Menschenrechtscharta das Recht den Staat, in dem man lebt, zu verlassen. Aber es existiert kein Recht in ein anderes Land einzureisen. Denn das ist das Revier der Nationalstaaten, die mit darauf pochen, selbst zu entscheiden, wer Staatsbürger sein darf und wer nicht.
Wir haben mit einem kniffeligen Widerspruch zwischen Staatsbürger- und Menschenrecht zu tun. Menschenrechtlich gesehen existiert, zumindest implizit, das Recht zu leben, wo man will. Denn ein Recht aus Ausreise macht logisch nur Sinn, wenn es mit einem Recht auf Einreise verkoppelt ist. Doch das existiert nicht – weil souveräne Nationalstaaten entscheiden, wer zu ihrem Demos gehört.

Demokratische Gemeinschaften brauchen Grenzen

Das ist mehr als ein willkürlicher Ausschlussmechanismus. Demokratien brauchen, so das Argument, Verbindlichkeiten und einen Vorrat an gemeinsamen Werten. Demokratische Gemeinschaften benötigen eine definierte Bürgerschaft und daher eben auch – Grenzen. No borders ist so gesehen eine zwiespältige Parole, weil sie Funktionsfähigkeit von demokratischen Gemeinschaften auf eine harte Probe stellen würde.
Bürgerschaft und Staat haben, so die These des US-Philosophen Michael Walzer, daher das Recht, Fremde aufzunehmen oder abzuweisen. So gibt es einen unauflösbar scheinenden Widerspruch – zwischen dem Menschenrecht auf Gleichheit und dem Recht von Staaten, den Unterschied zwischen Bürgern und Nicht-Bürgern zu markieren.
Das globale Dorf ist ein irritierendes Gebilde. Die Globalisierung macht Grenzen durchlässig, flüssiger, sogar überflüssig. Doch die Verkehrsregeln für das globale Dorf schreiben immer noch die Staaten, für die die Existenz von Grenzen elementar sind.

Stefan Reinecke, geboren 1959, studierte Germanistik und Politik und ist seit fünfzehn Jahren als Redakteur und Publizist in Berlin tätig, u. a. als Redakteur beim Tagesspiegel und bei der taz, für die er derzeit als Autor arbeitet. Mehrere Buchveröffentlichungen, zuletzt eine Biographie von Christian Ströbele.

Der Publizist Stefan Reinecke
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