Globalisierung und Nationalismus

Der populistische Ruf nach Souveränität

Ein Mitglied der rechtsgerichteten Blut und Ehre-Kulturvereinigung trampelt auf eine Europafahne.
Der Ruf nach staatlicher Souveränität ist seit einiger Zeit nicht zu überhören, schreibt Klaus Englert. © dpa / picture alliance / epa MTI Kovacs
Von Klaus Englert |
Über Jahrzehnte gaben viele Staaten Zuständigkeiten und Aufgaben an transnationale Organisationen ab. Das passte zur wirtschaftlichen Globalisierung. Diese Zeiten sind spätestens seit dem Brexit vorbei. Die Frage nach der Souveränität von Staaten ist zurück auf der Agenda. Ein Rückschritt findet der Journalist Klaus Englert.
Der Ruf nach staatlicher Souveränität ist seit einiger Zeit nicht zu überhören. Während des zurückliegenden französischen Wahlkampfs waren nationalistische Töne von den entgegengesetzten politischen Lagern zu vernehmen. Die Linken und Rechten intonierten die Marseillaise und huldigten dabei mit geschwellter Brust der Grande Nation. Souveränität scheint das Thema der Stunde zu sein. Aber warum verweigerten sich ausgerechnet so viele Franzosen einem demokratischen Europa, das vom linksliberalen Macron propagiert wird? Dabei hatten die Franzosen mehr als jedes andere Volk zur europäischen Einigung beigetragen. Angefangen von den Europa-Plänen des Herzogs von Sully im 16. Jahrhundert, gefolgt von der Vision einer europäischen Friedensordnung, entworfen vom Frühaufklärer Abbé de Saint-Pierre. Bis hin zum Dichter und Politiker Victor Hugo, der 1849 wortstark zu einem friedvollen, demokratischen Europa aufrief.

Die Europäische Idee stand gegen nationalstaatliche Willkür

Noch im 19. und 20. Jahrhundert galt Europa bei vielen Künstlern und Intellektuellen als emanzipatorisches Ideal. Die Europäische Idee stand für Freiheit, Gerechtigkeit und gegen nationalstaatliche Willkür. Erst der international zu beobachtende rollback führte zu Abwehrreaktionen nach außen und politischen Verhärtungen im Innern. Das sind die gesellschaftlichen Kosten des auf uneingeschränkte Souveränität pochenden Staates.

Souveränität geht einher mit eingeschränkten Bürgerrechten

Gegenwärtig becirct das Zauberwort "Souveränität" nicht nur die Bürger im demokratischen Westen oder in osteuropäischen Staaten wie in Ungarn oder Polen, Tschechien oder der Slowakei. Sämtliche dieser Länder haben sich zu ethnischen Demokratien entwickelt, in denen verstärkte staatliche Souveränität einhergeht mit eingeschränkten Bürgerrechten für Minderheiten. Ähnliches passiert in der Türkei und in Russland, Machtpolitik, maskiert als patriarchalistische Fürsorge für die Untergebenen, wird als Sicherheitsgarantie empfunden. Das hat bereits Mustafa Kemal verstanden, der sich von seinen Partisanen "Grauer Wolf" und seinen Untertanen Atatürk, "Vater der Türken", nennen ließ. In Kemals Fußstapfen tritt jetzt sein islamistischer Erbfolger Erdogan: Als Väter brauchen sie sich nicht an vorhandene Gesetze halten, denn sie sind das Gesetz. Patriarchen sehen sich als souverän, weil sie meinen, gleichzeitig außerhalb und überhalb des Gesetzes zu stehen.

Angelegenheiten des Staates als Familienangelegenheiten

Populistische Potentaten wie Putin, Erdogan oder Maduro verstehen die inneren Angelegenheiten des Staates gleichsam als Familienangelegenheiten. Der Frieden wird gestört durch Einmischung in die inneren Angelegenheiten. Und so wacht der allmächtige pater familias über den Familienfrieden - und der souveräne Staatslenker über die Ruhe im Innern. Weshalb er, als äußerstes Zeichen seines Machtanspruchs, dann den Ausnahmezustand ausruft, wenn es darum geht, den Burgfrieden wiederherzustellen.

Der Ruf nach mehr staatlicher Souveränität schwächt die Demokratie

Und was wäre die Alternative in unserer vernetzten Welt? Es steht zu befürchten, dass der beständige Ruf nach mehr staatlicher Souveränität letztendlich die Demokratie schwächt. Denn das würde darauf hinauslaufen, demokratische Errungenschaften, bürgerschaftliche Partizipation und Offenheit politischer Prozesse, preiszugeben. In der Demokratie sollte das Verhältnis zwischen Bürger und Staat, zwischen Individuum und Hierarchie immer wieder aufs Neue verhandelt werden. Auf die Gefahr hin, dass die gelebte Demokratie schwächer erscheinen mag als der autoritär regierte Staat. Sicher, das macht sie anfällig für Populisten, die für jede Krankheit eine Rezeptur bereithalten. Aber ohne diesen Preis ist wirkliche Demokratie – mithin eine wandlungsoffene Gesellschaft - nicht zu haben.

Klaus Englert, Architekturkritiker, schreibt für die "Frankfurter Allgemeinen Zeitung". Und den Hörfunk. Er war Kurator der Ausstellung "Architektenstreit. Brüche und Kontinuitäten beim Wiederaufbau in Düsseldorf" (Stadtmuseum Düsseldorf) und der Wanderausstellung von "Neue Museen in Spanien" und schrieb die Bücher "Jacques Derrida" und "New Museums in Spain".

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