Philipp Löpfe/ Werner Vontobel: Wirtschaft boomt. Gesellschaft kaputt. Eine Abrechnung
orell füssli Verlag, Zürich 2014
224 Seiten, 19,95 Euro
Wie die Gesellschaft die Wirtschaft besser kontrollieren kann
Unmenschliche Arbeitsbedingungen, Ausbeutung und Armut sind keine Naturphänomene - sondern Ergebnisse menschlichen Handelns, sagen die Autoren von "Wirtschaft boomt". Die gerechteren Alternativen erläutern sie in ihrer "Abrechnung".
"In der Ökonomie geht es immer auch um die Frage, wie das Wirtschaftssystem die Gesellschaft organisiert und wie sich das Individuum in dieser Gesellschaft entfalten kann. Wie viel rein materieller Wohlstand – etwa gemessen am Bruttoinlandsprodukt – mit der einen oder anderen Organisationsform erzielt würde, ist dabei ein vergleichsweise unwichtiger Nebenaspekt."
Dieses Verständnis von Wirtschaftswissenschaft, das die Autoren Löpfe und Vontobel ihren Überlegungen zugrunde legen, ist nicht selbstverständlich. Einige Ökonomen dürften darin eine Besinnung zurück auf die Ursprünge der Wirtschaftsanalyse und einen Umgang mit der Ökonomie als das, was sie ist, nämlich eine Teildisziplin der Sozialwissenschaften, sehen. Andere einen unzulässigen Eklektizismus.
Diese Perspektive mag nicht neu sein, aber sie ist erneut wichtig. Denn sie erinnert daran, dass die Wirtschaft kein Naturphänomen ist, kein unsichtbares Tier, dem der Mensch ausgeliefert sein muss, sondern das Ergebnis seines Handelns. Sie beleuchtet das Verhältnis des Individuums zur Krise. In diesem Licht suchen die Autoren zunächst nach Freiräumen im System, setzen grundlegende Annahmen herrschender Lehre in diesen Kontext und machen sie auch für Nicht-Ökonomen nachvollziehbar.
"Im Schlaraffenland herrscht hundert Prozent Arbeitslosigkeit. Dennoch beklagt sich niemand darüber. Auch Wachstum ist dort kein Thema. Wachstum von was? Worauf es in der Ökonomie wirklich ankommt, ist nicht eine tiefe Arbeitslosenquote, sondern eine gute Versorgung der Bevölkerung mit allem, was zum Leben und Genießen notwendig ist."
Niedriglohn senkt Lebenserwartung
Wirtschaftspolitik mit einer "Optik der Beschäftigung", die eine Reduktion der Arbeitslosenquote um jeden Preis versuche, habe in Deutschland einen Niedriglohnsektor geschaffen, in dem Menschen für unnütze Arbeit verschlissen würden. Unnütz, weil die Arbeitskraft so billig sei, dass sie die Produktivitätseinbußen aufgrund verschwenderischer Abläufe und dem Einsatz veralteter Technologien überkompensiere. Verschleiß, weil laut Datenreport 2013 Arbeitnehmer im Niedriglohnsektor eine relativ geringe Lebenserwartung hätten, sich nur jeden zweiten Tag eine vollwertige Mahlzeit leisten und jeder sechste seine Wohnung im Winter nicht heizen könne.
Eine Beschäftigungspolitik, die solche Arbeitsplätze schaffe, führe zu Verschwendung, weil viele Arbeitskräfte für unnütze Arbeit eingesetzt würden, statt für erfüllende, oft monetär gar nicht messbare Tätigkeiten.
Neben Forderungen nach einem Mindestlohn und humanen Arbeitsbedingungen, orientieren sich ihre Reformvorschläge an dieser Vorstellung: Lokalwährungen zur Förderung der lokalen Wirtschaft, Förderung der Selbstversorgung, etwa durch Urban-Gardening oder Lokalwirtschaftslehre als wichtiges Fach in der Schule.
Denn: Bei einer lokaleren Wirtschaft würde die Komplexität der Lieferketten abnehmen, die Verantwortung für die Auswirkungen der Wirtschaft auf Mensch und Natur wäre eventuell klarer. Kurz: Die gesellschaftliche Kontrolle über die Wirtschaft wäre möglicherweise bei einer lokalen Ökonomie eher gewährleistet als bei einer globalen.
Natürlich gibt es Alternativen
Andererseits können auch lokal operierende Unternehmen mächtig, ausbeuterisch und korrupt sein. Darauf gehen die Autoren aber kaum ein. Für sie bleibt die sogenannte "Globalisierung" das Grundübel:
"Je globaler die Wirtschaft, desto größer sind die Hebel der Ausbeutung. Die Lösung besteht darin, die nationalen und lokalen Gegenkräfte zu stärken. Die Globalisierung hinterlässt wenige Sieger, einige, die noch hoffen, und viele, die resigniert haben, weil sie keine Alternative sehen. Gibt es denn eine? Natürlich!"
Die Kausalitätsrichtung, nämlich dass die Globalisierung die Ursache für die beschriebenen Mängel sein soll, stellen die Autoren in ihren Argumenten nicht ganz her. Genauso gut könnte eine ungerechte Globalisierung auch die Folge und eben nicht die Ursache eines nicht-funktionierenden Wirtschaftssystems sein.
Die vorgeschlagenen Alternativen sind vornehmlich Alternativen in den Industriestaaten. Die transnationalen Auswirkungen ökonomischer Aktivitäten von Unternehmen, die ihren Sitz in diesen Staaten haben, spielen hier, wie auch in vielen anderen zeitgenössischen Diskussionen zu einer möglichen Neuordnung des Wirtschaftssystems, kaum eine Rolle.
Wie verändern sich beispielsweise die Arbeitsverhältnisse für Näherinnen in Dhaka, wenn die Wirtschaft in Europa modelliert wird? Werden die Arbeitsbedingungen humaner? Oder verlieren die Frauen sogar ihre Arbeit, weil ihre Produkte dort durch eine regionale Produktion hier substituiert werden?
Regionales Wirtschaften statt globale Ungleichverteilung
Wie untragbar die Bedingungen etwa im deutschen Versandhandel sein mögen, die globale Organisierung der Wirtschaft akkumuliert immer mehr Reichtum in Deutschland als in vielen so genannten "Entwicklungs-" und "Schwellenländern". Gerade über diesen Mechanismus der Ungleichverteilung muss nachgedacht werden. Die Ausgangsfrage kann also nicht mehr nur lauten: Wie organisiert das Wirtschaftssystem die Gesellschaft und wie entfalten sich die Individuen darin? Sie muss auch lauten: Wie organisiert unser Wirtschaftssystem andere Gesellschaften und wie können sich Individuen dort entfalten?
Die tendenzielle Umstrukturierung einer globalen Weltwirtschaft zu einer regionalen Lokalwirtschaft ändert wenig daran, dass die Lebensbedingungen in den letzten Jahrhunderten durch transnationale Prozesse, nicht zuletzt durch den Kolonialismus, geformt wurden – und nicht nur, wie oftmals impliziert wird, durch eine Globalisierung in den letzten 30 Jahren.
Lokale Ansätze können womöglich zu Lösungen beitragen, aber sie müssen eben doch global gedacht werden. Von dieser Warte aus wirkt ein Plädoyer für Urban-Gardening eher wie ein Problem aus dem "Schlaraffenland" als eine "Abrechnung" mit einem destruktiven Wirtschaftssystem.