Glockentürme und Minarett

Von Adolf Stock |
Pécs in Südungarn, das "Tor Europas zum Balkan", wurde in 2000 Jahren zum Schmelztiegel ganz unterschiedlicher Kulturen. Frühchristliche Gräber, Moscheen und Kirchen erzählen von der reichen Geschichte der Stadt, in der das Christentum eine zentrale Rolle spielt.
Im ehemaligen Ratskeller der Stadt Pécs befindet sich heute die Filiale einer Fastfood-Kette. Die südungarische Provinzstadt will Fortschritt und Gegenwart. Doch die vielen Besucher reisen nicht wegen Burger und Cola nach Pécs. Sie sitzen in der Sonne und blicken auf den Széchenyi-Platz, der sich zum Kulturhauptstadtjahr besonders fein gemacht hat: das stolze Rathaus, das repräsentative Hotel, das seit sozialistischen Zeiten keine Gäste mehr empfängt, die alte Jesuitenschule, die heute ein städtisches Gymnasium ist, und die vielen eindrucksvollen Bürgerhäuser aus der Habsburgerzeit. Natürlich ist die Moschee viel älter als die Gründerzeitbauten. Sie erinnert an eine Zeit, als die Stadt türkisch war.

Joachim Habel leitet das Lenau-Haus in Pécs, das sich um deutsche Kulturpflege kümmert. Er steht vor dem Gotteshaus, das nun St. Marien heißt und römisch-katholische Stadtkirche ist:

"Hier stand vor der türkischen Zeit die mittelalterliche gotische Pfarrkirche. Die Türken haben nach der Eroberung diese Pfarrkirche abgerissen und teilweise aus diesen Steinen ihre Moschee aufgebaut, die dann bis heute erhalten geblieben ist. Was hier fehlt, links an der Ecke, hier stand das Minarett noch bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts, aber dann war einmal ein fürchterlich großes Gewitter und ein Blitzschlag hat dieses Minarett getroffen und derartig ruiniert, dass man dann das Minarett abgerissen hat."

Als 1543 die Türken nach Ungarn kamen, blieben sie fast 150 Jahre. Damals wurden zehn Moscheen gebaut, hinzu kamen Schulen und Klöster.

Harald Roth ist Referent am Deutschen Kulturforum östliches Europa. Pünktlich zum Europäischen Kulturhauptstadtjahr hat er mit einem Kollegen ein Buch über die Geschichte von Pécs geschrieben. Ein Kapitel ist der Türkenherrschaft gewidmet. Ungarn war komplett westkirchlich, bis die Osmanen kamen. Es wurde eine Zeit der religiösen Vielfalt:

"Es gab viele Konfessionen nebeneinander. Dominant waren die Muslime als die Religion der Herrschenden, aber – und das ist eben wichtig und wird in der neueren Geschichtsschreibung und auch im Bewusstsein der Menschen oft verdrängt – in dieser Zeit war gerade Fünfkirchen ein Zentrum des Protestantismus. Neben Unitariern, Lutheranern, Reformierten oder Calvinisten gab es in dieser Zeit auch eine katholische Gemeinde, die von Jesuiten betreut wurde, es gab orthodoxe Gemeinden und natürlich die Muslime in der Stadt."

Nach der Vertreibung der Türken kamen die "Donauschwabe". Es waren Bauern und Handwerker aus Deutschland, die das zerstörte und entvölkerte Land besiedelten. Auch Joachim Habel gehört zu ihnen:

"Die Römer haben hier eine keltische Siedlung praktisch erobert, Anfang des ersten Jahrhunderts nach Christus, und aus dieser keltischen Siedlung ist dann die römische Sopianae entstanden. Unweit von hier, 40 Kilometer war ja der Limes, dort waren die militärischen Lager."

Harald Roth: "Diese Stadt war recht früh christianisiert worden, so dass sich das am Rande zunächst der römischen Siedlung und dann nachher die ganze Siedlung umfassend eben eine christliche Gemeinschaft gebildet hat, die in den Gräbern, die sich dort erhalten haben, auch heute noch sichtbar ist. Also eine sehr frühe Präsenz des Christentums. Deswegen nimmt man auch an, dass es so etwas wie ein christliches Zentrum, wenn nicht sogar eine Art Bischofssitz in dieser Zeit gewesen sein müsste."

Joachim Habel und Harald Roth erzählen von der römischen Zeit. Die Gräber sind 1600 Jahre alt und so bedeutend, dass sie auf der UNESCO-Liste des Welterbes stehen. Schon im neunten Jahrhundert soll es in Pécs fünf christliche Basiliken gegeben haben, dieser Tatsache verdankt die Stadt ihren deutschen Namen: Fünfkirchen.

Die Bischofsburg wurde zum geistigen Zentrum der Stadt. Zum Ensemble gehört auch der Dom, der größte Sakralbau in Pécs. Harald Roth:

"Der Dom war das Kernstück der alten Bischofsfestung, diese Festung war immer wieder umkämpft worden im Laufe der Zeit und hatte sehr stark gelitten. Eben auch der alte Dom, der im hohen Mittelalter entstanden war und wirklich in der Zeit ein herausragendes Baudenkmal war. Man hat immer wieder versucht, den Dom wiederherzustellen und zu festigen, das ist immer wieder missglückt. Nachdem die Stadt durch die Kohlevorkommen in den Bergen um Fünfkirchen wirklich zu einem sehr großen Reichtum kam, hat man einen radikalen Schnitt gemacht und den Dom Ende des 19. Jahrhunderts nahezu komplett neu gebaut."

Der Dom wurde nach romanischen Vorbildern gebaut. Er erinnert an den Limburger Dom oder an das Kloster Maria Lach. Gleich nebenan steht das barocke Bischofspalais. Im Vestibül empfängt Bischof Mihály Mayer seine Besucher. Neben dem feudalen Treppenaufgang schlägt zur vollen Stunde die große vergoldete Uhr mit dem Angst einflößenden Sensenmann, der die Menschen an die rastlos verrinnende Zeit und an die Endlichkeit erinnert.

Mihály Mayer: "Sie wollen sehen, dass dort oben die Zeit geht. Und wenn man nicht fürchtet die Sensen, dann enthaupten sie uns."

Damals nahmen die Katholiken das Schwert selbst in die Hand. Nach der Türkenherrschaft eroberte der Klerus wieder sämtliche Machtpositionen. Der Jesuit Matthias Ignaz Radanay, Offizier und Priester, wurde zum Bischof benannt. Harald Roth:

"Sämtliche anderen Religionen sind schon sehr kurz, also ganz wenige Jahre nach der Rückeroberung regelrecht verboten worden. Die Muslime verschwanden vollständig, entweder indem sie auf den Balkan zurückzogen, oder – und das gilt für die meisten – indem sie zum Katholizismus konvertierten, selbst die Orthodoxen, die hier lebten, mussten sich der katholischen Kirche durch eine Union anschließen."

Harald Roth berichtet von einem radikalen Katholizismus. Die Jesuiten übernahmen die Ghazi-Kassim-Moschee. Jetzt steht Joachim Habel in dem katholischen Gotteshaus und erklärt, was sich durch den Umbau verändert hat:

"Die Christen haben Türen gemacht aus den zwei mittleren Fenstern, damit die Stadtbewohner auch direkt von unten in die Kirche reingehen können. Aber diese Mauer ist die heilige Mauer, die ist nach Mekka ausgerichtet, und in der Mitte ist renoviert, rekonstruiert die Mihrab-Nische, das Heiligtum, das musste immer nach Mekka schauen. Natürlich konnten sie die ganze Kirche nicht nach Südosten verdrehen, aber mindestens die Mihrab-Nische musste dann nach Südosten nach Richtung Mekka blicken."

Heute sind vielfältige Spuren aus osmanischer Zeit in der katholischen Stadtkirche zu finden. Joachim Habel:

"Diese Marmortafel ist ein Zitat aus dem Koran, und zwar die erste Sure: Ehre sei Gott, dem Herrn, dem Barmherzigen. Wir dienen Dir und flehen Dich an um Hilfe. Führe uns auf den rechten Weg, auf den Weg derjenigen, zu denen Du gnädig bist. Und auf der linken Seite ist auch eine Marmortafel, das ist ein Zitat aus dem Alten Testament, aus dem Buch der Könige, und unten ist vermerkt, dass am 14. Oktober 1686 die Stadt von christlichen Armeen zurückerobert worden ist, und die Berichte und das Kriegstagebuch informieren darüber, dass die Offiziere der kaiserlichen Armee hier ein Tedeum gesungen. Das heißt, wir treten jetzt in die Fußstapfen von Ludwig Markgraf von Baden, von Prinz Eugen aus Savoyen und andern namhaften deutschen Heeresführern."

Es waren Architekten und Künstler, die Anfang bis Mitte des letzten Jahrhunderts den Eklektizismus in Fünfkirchen zurückdrängen wollten. Ihnen war das wahllose Aneinanderreihen aller möglichen und unmöglichen Stile ein Dorn im Auge. Sie wollten klare Formen, und die historischen Bauten sollten möglichst genau ihre Geschichte erzählen.

Harald Roth: "Das war einer der Hintergründe, um die Stadtpfarrkirche auf dem Marktplatz, die frühere Ghazi-Kassim-Moschee wieder rückzubauen. Die andere Moschee, die sogar mit Minarett noch erhalten ist, die kleine Moschee außerhalb der alten Stadtmauern ist in sozialistischer Zeit rückgebaut worden."

Joachim Habel: "Die türkische Regierung hat Anfang der 70er Jahre eine komplette Einrichtung geschenkt, und es ist so eine Verabredung, dass freitags, nach der Sperrstunde als Museum, dürfen diese hiesigen Muslims - ich weiß nicht, zwölf, fünfzehn, hab’ nie abgezählt - reingehen und beten."

In sozialistischer Zeit blieb zwar das Bistum erhalten, aber alle christlichen Institutionen, die Schulen und das karitative Fürsorgewesen wurden verstaatlicht oder abgeschafft. Das hat sich in den letzten zwanzig Jahren geändert. Bischof Mayer ist froh, dass sich sein Bistum wieder ungestört entfalten kann:

"Wir freuen uns, dass die Stadt Pécs eine Kulturhauptstadt von Europa ist. Was ich auch immer sage, dass wir nicht nach Europa gehen, Europa kommt nicht zu uns, sondern wir leben in Europa. Was zu uns kommt, das ist die Europäische Union, das ist nicht ganz Europa. Viele denken, das ist identisch. Ich sage immer, Europa hat als Werteordnung eine christliche Werteordnung, die europäische Union sucht ihre Werte. Hat sie noch nicht gefunden. Das wollen auch viele nicht hören. Aber ein ungarischer Bischof darf das sagen."

Aber Pécs hat auch eine osmanische Vergangenheit, und es leben viele Minderheiten in der Stadt. Nicht nur die Donauschwaben, auch Roma, Slawen und Kroaten sowie über zehn kleinere Völkerstämme.

Harald Roth: "Ein anderes Charakteristikum ist eben, dass in dieser Stadt nie eine Kultur wirklich komplett dominant war. Es gab immer mehrere Kulturen nebeneinander, die sich ergänzten, konkurrierten und wiederum etwas Neues geschaffen haben, was eben nach verschiedenen Seiten hin offen sein musste, sonst hätte es nicht bestehen können."

Wer durch die historische Altstadt flaniert, kann diese kulturelle Vielfalt auf Schritt und Tritt entdecken.

Harald Roth: "Eine Besonderheit ist vielleicht die, dass man innerhalb einer Stunde aus dem Bischofsdom etwa in eine Moschee gehen kann und von der Moschee über eine Ordenskirche zu der Synagoge. Alle sind noch sozusagen in Betrieb, werden noch genutzt. Das ist etwas, was man in wenigen Städten Mitteleuropas so erleben kann, insoweit ist das sicher etwas Besonderes, was diese Stadt auch auszeichnet."

Vom Széchenyi-Platz aus sieht man die Hänge des Mecsek-Gebirges und die kleine Kapelle Maria Schnee. Sie erinnert an die Zeit, als die Pest nach Fünfkirchen kam. Auf einem Hügel dahinter steht der Fernsehturm. Wer seinen Fotoapparat entsprechend hält, kann ihn als Minarett der Moschee benutzen. Zeitreisen sind in Pécs ein ganz alltägliches Abenteuer.

An lauen Sommerabenden flanieren die Menschen auf der Promenade vor der Bischofsburg im Schatten des Doms. Südländisches Flair. Es gibt Baumkuchen und Wein oder Würstchen und Bier. Auf den Bühnen treten Sänger auf. Die ganze Stadt scheint auf den Beinen. Das Europäische Kulturhauptstadtjahr ist ein Fest für alle. Eine guter Grund, nach Pécs zu reisen, auf halber Strecke zwischen Essen und Istanbul. Nirgendwo sonst ist die verwirrende Vielfalt Mitteleuropas so mit Händen zu greifen wie in der alten Bischofsstadt Pécs, die auch noch immer Fünfkirchen heißt.


Links:
Pécs
Kulturhauptstadt Europas 2010
Deutsches Kulturforum östliches Europa
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