Glosse über Wut im Netz

So macht Schimpfen wieder richtig Spaß

03:49 Minuten
Ein Mann schreit sein Laptop an.
Solch' Wut sollte nicht ungefiltert versendet werden. Eine Onlineplattform bietet Hilfe. © imago-images / Wolfgang Zwanzger
Von Andrea Gerk |
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Digitale Medien bringen mitunter viel Ärger in Umlauf. Mit wütenden Kurzschlussreaktionen darauf zu reagieren, ist nicht empfehlenswert. Zu schnell ist etwas abgeschickt, das man später bedauert. Es gibt aber eine Art virtuelle Bremse.
Nicht erst seit Donald Trump wird aus dem Weißen Haus heraus kräftig und deftig geschimpft. Schon Abraham Lincoln verschaffte seinem Ärger gern in schriftlicher Form Ausdruck, wenn auch nicht per Twitter, sondern in Form von handgeschriebenen Schimpftiraden.
Die ließ der 16. Präsident der USA jedoch, anders als sein Nachfolger Trump, erst einmal so lange auf seinem Schreibtisch liegen, bis die übergekochten Emotionen etwas abgekühlt waren, um erst danach zu entschieden, ob er sein garstiges Gewüte tatsächlich abschicken wollte.

Wutmails erstmal "zwischenparken"

"Hot-Letter" nannte Lincoln seine vorbildliche Selbstkontrolle, aus dem ein gewisser Julius Bertram nun eine Online-Plattform entwickelt hat, auf der man seine Wutmails zwischenparken kann, bevor sie endgültig abgeschickt werden. Hot-letter nimmt also unsere aufbrausenden Gefühle wie eine fürsorgliche Mutter an die Leine.
Eine geniale Idee, denn so kann man sich quasi kontrolliert gehen lassen und dabei auch noch richtig kreativ werden. Wozu sich das Schimpfen hervorragend eignet. Schimpfwörter sind ein wichtiges Kulturgut, sagt z.B. die Gießener Künstlerin Ingke Günther, die seit vielen Jahren Schimpfwörter mit rosarotem Garn auf Büttenpapier stickt. Weit mehr als zweitausend Begriffe enthält ihre Sammlung inzwischen, darunter Klassiker wie Pissnelke und Pantoffelheld, aber auch Neukreationen wie Achselhippie oder Begeisterungstaliban.

Meckern und Motzen ist erleichternd

Hat sie schlechte Laune, fabriziert die Wutstickerin ein Schimpfwort und schon geht's ihr besser – denn das Meckern und Motzen dient ganz klar der emotionalen Erleichterung. Schon Sigmund Freud erklärte: "Derjenige, der zum ersten Mal anstelle eines Speers ein Schimpfwort benutzte, war der Begründer der Zivilisation." Dementsprechend spielt es auch in der Kunst eine Rolle – man denke an Sigmar Polkes Bild "Das große Schimpftuch".
Wissenschaftlich wird die kulturelle Bedeutung des Grantelns in der "Malediktologie" erforscht. Schon Kinder spielen, sobald sie die Sprache entdecken, mit "bösen" Wörtern und freuen sich, wenn man den Faden aufgreift und weiterspinnt. Sich zu necken, gilt als Vorform der ausgewachsenen Beleidigung und hat in vielen Kulturen eine regulierende Funktion.

Schmähreden und Schimpfwettstreite weltweit

Der Stamm der Mbuti in Zaire zum Beispiel nutzt bewusst Spöttereien, um Auseinandersetzungen die Spitze zu nehmen, und der Niederländer Johan Huizinga widmet in seinem Werk "Homo Ludens" den so genannten "Schimpfturnieren" ein eigenes Kapitel und berichtet von Schimpfwettstreiten, Schmähreden und frechen Spottliedern von China über Altarabien bis zu den Germanen.
"Nur zu einem Handgemenge sollte es dabei, bittschön, nie kommen. Denn es ist ja nur ein Spiel", schreibt der Kulturhistoriker. Schön schimpfen kann und soll Spaß machen und tut gut und Dank "Hot-Letter" haben wir jetzt alle eine Art digitalen Erziehungsberechtigten, der dafür sorgt, dass wir uns genüsslich und möglichst einfallsreich ausschimpfen können, ohne dass es uns nachher leid tun muss.
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