Glosse

Wer soll sich das alles anschauen?!

Premiere im Oktober 2013 am Hebbel am Ufer Berlin: "Western Society" von Gob Squad
Premiere im Oktober 2013 am Hebbel am Ufer Berlin: "Western Society" von Gob Squad © picture alliance / dpa /Claudia Esch-Kenkel
Von Michael Laages |
Bald endet die Sommerpause und jedes Stadt- und Staatstheater wird zur Spielzeit-Eröffnung zu ungezählten Premieren laden. Doch muss das wirklich alles sein?
Und wer soll sich das nun alles anschauen, bitteschön? Im Ernst: Wochenenden gibt's im September, da müsste ich mich zumindest siebenteilen, um nur die neuen Inszenierungen in Augenschein zu nehmen, an denen mich irgendetwas wirklich interessiert – das Thema, aktuell oder zeitlos, das Stück, alt oder neu, das Regie-Team, bewährt oder jung, Ensemble und Theater selbst, ob nun ganz neu am Start und mit neuer Leitung oder mittendrin in der Entwicklung oder Bestätigung eines prägenden Profils.
Für auch nur einen möglicherweise (ich sage: möglicherweise!) erfreulichen Abend im geliebten Theater muss ich mindestens vier oder fünf Alternativen opfern ... tja.
Wahr ist natürlich auch, dass all diese Eröffnungen, von Zürich bis Kiel, Cottbus bis Saarbrücken, überhaupt nicht für unsereinen konzipiert werden, für die kleine, elitäre Kaste der reisenden Nörgler. Wenn eine Bühne allein vor Ort zuständig ist für die (Achtung, hässliches Wort!) "kulturelle Grundversorgung", dann bedient sich die spielplangestaltende Dramaturgie naturgemäß viel selbstverständlicher im Mainstream, greift vor allem auch viel leichter zum Klassiker – denn der "geht" ja angeblich immer; mit Shakespeare und Schiller, mit "Faust" und den "Räubern" und "Romeo und Julia" ...
Ist das Theater ein bisschen berühmter, muss dieser Klassiker dann aber schon ganz besonders sein, zum Beispiel mit zeitgenössischer Pop-Musik live sowie je 20 Laien-Mädchen und –Jungs aus der Nachbarschaft, wie demnächst halt bei "Romeo und Julia" in Hamburg. Mit Speck fängt man Mäuse, sagt der Volksmund, auch ganz junge Mäuse ... aber auch an den ewig klugen Satz von August Everding sei hier mal wieder erinnert: Wer der Jugend hinterher läuft, sieht sie immer nur von hinten.
Möglichst wenig nach "Theater" aussehen
Im Übrigen verwendet das Theater ja schon seit geraumer Zeit immer mehr Energie auf Selbstvermummung, fast alle "freien" Theaterhäuser, vom Berliner HAU bis zum Mousonturm in Frankfurt, leben von dieser Strategie der Tarnung – möglichst wenig nach "Theater" soll dort das Theater oft aussehen. Deshalb all die Live-Musik (übrigens gern auch von Musikern, die plötzlich merken, wie auskömmlich doch Theater noch gefördert wird!), deshalb all die Videos und Live-Kameras, deshalb all die Installationen verschiedenster Sorte, in denen Schauspielerin und Schauspieler nurmehr Bausteine sind unter vielen anderen, die viel mehr Aufwand und Aufmerksamkeit erfordern.
Spielen kann ja jeder - deshalb gibt's ja auch die ungebremst massive Bewegung hin zur Laienspielschar, auf den modischen "Bürgerbühnen" rauf und runter im Lande – die sorgen zwar wie nichts sonst für feste Bindungen zwischen Theater und Kundschaft, die Kernkompetenz des Theaters aber (die möglichst professionelle Herstellung von Aufführungen fürs Repertoire) bereichern sie eher selten.
Auch dadurch aber wächst die Premierenflut schnell ins Tsunamihafte. Und auch wenn ich hier nur ein Luxusproblem von reisenden Dauer-Kuckern bejammere – wär's denn nicht auch generell schöner, wenn Theatermacher mehr Mut aufbrächten, zum neuen oder auch ganz selten gespielten Stück?
Das Publikum ist oft neugieriger als wir alle ahnen! Wenn die Macher nicht so routiniert an den Start gingen, sondern mit pointierten Kommentaren zur Zeit, die aus den Fugen ist? Und wenn sie dafür auch mal verzichteten auf das, was verzichtbar ist; und zum Beispiel "Onkel Wanja" mal für eine Weile "Onkel Wanja" sein ließen?
Oder wenn sie einfach (wie jetzt zum Beispiel das Deutsche Theater in Göttingen) ein bisschen später anfangen würden – zum Beispiel im Oktober?