Glosse zum Intellektuellen-Ranking des "Cicero"

Hundert ist das neue sechzig

Porträts von Peter Sloterdijk, Jürgen Habermas. Hans Magnus Enzensberger.
Peter Sloterdijk, Jürgen Habermas, Hans Magnus Enzensberger. © picture alliance / imago / Leemage / Montage: DLF Kultur
Von Arno Orzessek |
Die ersten Plätze des deutschsprachigen Intellektuellen-Rankings des "Cicero" belegen Peter Sloterdijk (71), Jürgen Habermas (89) und Hans-Magnus Enzensberger (89). Eine beispiellose Verdichtung von Hirnschmalz in der Ü80-Klasse, sagt Arno Orzessek.
Kennen Sie noch Jean-Francois Lyotard? Das war der französische Intellektuelle, der 1983 den hochberühmten Essay "Grabmal des Intellektuellen" geschrieben hat. Traurige These: Astreine Intellektuelle, die das große Ganze im Blick haben, die gibt's gar nicht mehr. Und, zack, 15 Jahre später lag Lyotard selbst im wohlverdienten Grab, in dem er sich allerdings umdrehen würde, wenn man ihm das Intellektuellen-Ranking des "Cicero" reichte, denn das listet für den deutschsprachigen Raum allein "500 wichtigste Intellektuelle" auf.
Und jetzt stellen Sie sich mal die Dunkelziffer vor, rechnet man noch normalgewichtige, weniger wichtige und unwichtige Intellektuelle dazu. Also von wegen 'Grabmal' und 'die gibt's nicht mehr'! Offenbar gibt's unzählige Intellektuelle, und sie sind putzmunter. Die Allerwichtigsten scheinen vom Ins-Grab-Sinken sogar ganz befreit zu sein.

Die erste Frau steht auf Platz 7

Achten Sie bloß auf die ersten zehn Plätze des Rankings! Sämtliche 500 studieren, dafür haben ja sowieso nur Arbeitslose, Rentner und die unkaputtbaren Intellektuellen selbst Zeit.
Die österreichische Autorin Elfriede Jelinek während eines Interviews in Wien, aufgenommen 1999
Die österreichische Schriftstellerin Elfriede Jelinek steht auf Platz 7.© picture alliance / dpa / Hans Klaus Techt
Also! Martin Walser: 91 Jahre alt, Platz 4; Hans-Magnus Enzensberger, 89, Platz 3; Jürgen Habermas, ebenfalls 89, Platz 2. Und auf Platz 1 der 71-jährige Jungspund Peter Sloterdijk, der als wackerer Rennradfahrer die Zukunft indessen noch vor sich hat.
Was erst recht – Frauen werden älter als Männer – für die 72-jährige Elfriede Jelinek auf Platz 7 und die 76-jährige Alice Schwarzer auf Platz 9 gilt. Jugendliche unter 50 Jahren könnten das Leben des Geistes in Deutschland als geriatrisches Symptom abtun. Doch in Wirklichkeit sind die knittrigen Pfiffikusse unsere Hoffnung. Heißt es nicht, wir hätten ein demographisches Problem? Nach dem Motto: Immer mehr Leute vergreisen, aber für Maloche, Kindermachen, Steuernzahlen und solche Dinge fehlt junges Blut.

Ein Jungspund belegt Platz 10

Nur die Ruhe! Da intellektueller Scharfsinn mit dem Alter offenbar steigt, werden die greisen Schlauberger wie von selbst immer bessere Lösungen finden für das Problem, das sie sind. Freuen wir uns also über die beispiellose Verdichtung von Hirnschmalz in der Ü80-Klasse.
Daniel Kehlmann 
Der Schriftsteller Daniel Kehlmann belegt Platz 10. © picture alliance/dpa/Foto: Arne Dedert
Klar, der Verdacht liegt nahe, "Cicero" habe die Liste der wichtigsten Intellektuellen schlicht mit der der ältesten verwechselt. Jugendlicher Leichtsinn in der Redaktion oder so. Aber denkste! Auf Platz10 steht Daniel Kehlmann, der mit 44 Jahren unter den silbrigen Top-Intellektuellen gerade mal im Stillalter ist. Wir dürfen dem Ranking also vertrauen.
Und wie geht's wohl weiter? Nun, wenn Sloterdijk demnächst 90 ist, sein Erzfeind Habermas 106 und Walser praktisch ewig, dann wird für Intellektuelle gelten: Hundert ist das neue sechzig. Jean-Francois Lyotard aber in seinem Grab wird die Welt nicht mehr verstehen.
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