Glück oder doch Gnade Gottes?
Jeder kennt Momente des Lebens, die er nicht beeinflussen kann. Schwierige Situationen, die sich zum Guten wenden, aber nicht aufgrund der eigenen Leistungsimpulse. Glück oder Gnade? Bei Martin Luther ist beides noch unmittelbar miteinander verbunden. Doch seit der Moderne sind beide Begriffe messerscharf voneinander getrennt.
"Ich hab vier Kinder, die machen mir unendlich viel Freude, die haben mir viel Mühe abverlangt. Das ist Glück, das hat mit Gnade nichts zu tun. Gnade setzt voraus, dass man auf irgendeine Weise verschuldet ist. Dass man etwas getan hat, was unverzeihlich ist."
Glück oder Gnade.
"Diese Vergebung zu erfahren ist mir noch nicht passiert, auch weil ich glaube, dass mir ein unverzeihlicher Akt noch nicht passiert ist. Ich hab schon viel Mist gemacht, aber nicht was, wo ich auf Gnade angewiesen wäre."
Glück gehabt.
Wie interpretieren wir unsere Lebensgeschichte und damit auch Ereignisse, die wir nicht beeinflussen können? Momente übergroßer Freude, Erleichterung, Hoffnung, Rettung aus einer ausweglosen Situation oder einfach nur die Tatsache, dass gerade nichts Gravierendes ansteht, dass nichts die täglichen Aufgaben und Pläne behindert, und wir verschont sind?
"Ich bin kein gläubiger Mensch im Sinne der christlichen Kirche, aber ich glaube schon, dass es etwas Göttliches ist, das Göttliche stellvertretend, das wir schwer benennen können, auch in der großen Liebe, die in uns allen vorhanden ist, auch versteckt, auch vergraben. Ich denke, dass es etwas Göttliches ist durch die Liebe, die wir potenziell in uns haben, dass das die Gnade beinhaltet."
"Die Begegnung mit meiner jetzigen Frau, das war schon Fügung."
Gott sei mir gnädig nach deiner Güte, tilge meine Sünden nach deiner großen Barmherzigkeit, wasche mich rein von aller Sünde ...
Heißt es in Psalm 51.
Gnade - ein unzeitgemäßes Wort, ebenso wie:
"Reue, Gunst, Barmherzigkeit, Güte, Demut."
Gnade - ein Wort, das selten ausgesprochen wird. Spontan fallen einem nur zwei Standardsituationen ein: entweder im religiösen Zusammenhang, während einer Messe oder in der Werbung. Dort sind Kühlschränke, Krankenkassen und Caddy Pick Ups "gnadenlos billig". In diesem Zusammenhang erscheint Gnade dann endlich als ein völlig verschlissenes Wort.
Allerdings: Hat nicht der neue Präsident der Vereinigten Staaten, Barack Obama seine Antrittsrede am 20. Januar mit dem Appell in das Vertrauen auf Gottes Gnade beendet und dafür den Jubel von zwei Millionen Menschen geerntet?
"... den Blick fest auf den Horizont gerichtet, haben wir mit Gottes Gnade dieses großartige Geschenk der Freiheit bewahrt und zukünftigen Generationen heil übergeben."
Zweifellos bekannte sich Obama in seiner Rede noch einmal zu den ganz großen Gefühlen und Werten ohne scheu vor religiösem Pathos. Auch von "being humble", also von "demütig sein" war die Rede. Sind diese Worte nurmehr für einen amerikanischen Staatsmann zu gebrauchen, sind sie in den ganz exklusiven, feierlichen Momenten der Menschheitsgeschichte möglich?
"Früher hab ich gedacht, das Leben ist steuerbar und planbar, heute weiß ich, dass das nicht so ist, dass es eher von Zufälligkeiten oder Lebensereignissen geprägt ist, die man sich nicht aussuchen kann und daher meine ich, leben wir alle aus einer großen Gnade, so wie die Buddhisten auch denken und fühlen. "
Um Gnade zu bitten, erscheint als ein unzeitgemäßer Akt, denn er widerstreitet dem Selbstbewusstsein des modernen Menschen, wonach Erfolg allein auf Willensleistung und einem selbst erarbeiteten Kompetenzvorsprung beruht.
Das große Versprechen dieser Freiheit hat aber auch eine Kehrseite, denn es formuliert ein ziemlich verkürztes, ja gnadenloses Verlierer-Prinzip: Wer nicht genug Schmackes hat, um täglich seine Hanteln zu wuppen, seinen Kollegen auf der Zielgeraden zur Chefetage zu überholen oder in Krisenzeiten seine Statussymbole zu retten, der ist selbst Schuld – und ergo: er hats wohl nicht anders verdient. Der amerikanische Soziologe Richard Sennett hat bereits vor gut zehn Jahren in seinem bekannten Buch "The Corrosion of Character" – deutscher Titel "Der flexible Mensch" - gezeigt, wohin dieses Egoprinzip führt:
"Der Gewinner bekommt alles. Er strahlt in der Organisation der Wirtschaft Gleichgültigkeit aus, wo das Fehlen von Vertrauen keine Rolle mehr spielt, wo Menschen behandelt werden, als wären sie problemlos ersetzbar oder überflüssig. Solche Praktiken vermindern für alle sichtbar und brutal das Gefühl persönlicher Bedeutung."
Statt "brutal" könnte man auch sagen "gnadenlos".
Gnade ist ein Akt der persönlichen Zuwendung, ein gnadenloser Umgang mit Mitarbeitern in einem Unternehmen bedeutet, dass der Respekt vor dem Einzelnen nicht mehr zählt. Kein Wort drückt dies unmittelbarer aus als der Begriff "Human Capital", zu deutsch "Humankapital", im Jahr 2004 von der "Gesellschaft für deutsche Sprache" zum Unwort des Jahres gewählt.
Der Gebrauch dieses Wortes aus der Wirtschaftssprache breitet sich zunehmend auch in nichtfachlichen Bereichen aus und fördert damit die primär ökonomische Bewertung aller denkbaren Lebensbezüge, wovon auch die aktuelle Politik immer mehr beeinflusst wird. Humankapital degradiert nicht nur Arbeitskräfte in Betrieben, sondern Menschen überhaupt zu nur noch ökonomisch interessanten Größen.
In der christlichen Theologie meint Gnade ein unverdientes, ein bedingungsloses Geschenk – ein Geschenk Gottes. Unverdient, weil es nicht eine bestimmte Gegenleistung voraussetzt, sogar im Gegenteil, weil es trotzdem gewährt wird, trotzdem jemand versagt hat, ja sogar weil jemand gefehlt hat. Die Idee der Gnade hat mit materialistischen Reziprozitätsverhältnissen nichts zu tun. Daher könnte man sogar folgern, dass Gnade nicht nur eine unverdiente, sondern sogar eine ungerechte Geste sei. Gnade vor Recht ergehen lassen - Verbrecher werden schließlich auch be-gnadigt. Gunther Wenz, Leiter des Instituts für Fundamentaltheologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München:
"Ich versuche mal den Begriff der Gnade mit dem der Freigiebigkeit zu umschreiben. Ein freies Geben und zwar nicht nur ein freies Geben irgendeiner Gabe, sondern das Geben einer Gabe, das der Geber selbst ist. Sich-geben wäre nach meinem Dafürhalten die beste Umschreibung des Begriffes der Gnade. Wenn Gott wie in der Theologie der Fall, als der Inbegriff und Grund aller Gnade bezeichnet wird, dann eben deshalb, weil er bereit und in der Lage ist, sich selbst vorbehaltlos zu geben."
"Barmherzig und gnädig ist der Herr, geduldig und von großer Güte."
Heißt es in Psalm 103. Gnade kann man - übrigens wie die Liebe - nicht einfordern, nicht erkämpfen. Gnade geschieht einfach.
"Mein Mann ist an Krebs gestorben vor ein paar Jahren und wir hatten zehn Monate, in denen wir das wussten und so schlimm diese Zeit und diese Situation war, sie hat mich innehalten lassen in diesem sonst oft sehr schnellen Lebensrhythmus, in dem man hastet und sich Dingen verschließt, die einem in dieser Situation plötzlich offenbar werden ... In so vielen kleinen Dingen habe ich so unglaublich viel Gutes und Schönes, was mich gestärkt hat, von meinen Freunden und den Menschen von meiner Umgebung erfahren und habe später, nachdem diese Situation vorbei war, habe ich gemerkt, dass diese unglaubliche Empfindsamkeit, die in dieser Situation so offen gelegt wurde und mir diese vielen wunderschönen Begegnungen mit Menschen ermöglicht hat, wieder weniger geworden ist."
Paulus hat den Begriff der Gnade stark mit dem Erlösungsgedanken verbunden. Im Brief an die Epheser schreibt er:
"Aus Gnade seid ihr gerettet. Er hat uns mit Christus auferweckt und uns zusammen mit ihm einem Platz im Himmel gegeben. Dadurch, dass er in Christus Jesus gütig an uns handelte, wollte er den kommenden Zeiten den überfließenden Reichtum seiner Gnade zeigen."
Gnade erscheint hier auch als ein Akt der Großzügigkeit, überfließender Reichtum.
Gleichzeitig enthält dieses Bild auch unzeitgemäße Konnotationen:
Gnade evoziert das Bild einer Autorität, die sich zu einem Schwächeren herunterbeugt. Es ist kein symmetrisches Verhältnis, denn der Mensch kann sich kaum revanchieren – oder doch?
"Es gibt ein gnädiges Verhalten, das in die Kompetenz der menschlichen Moral fällt. Und in dem Sinne gibt es auch das sittliche Gebot, nicht gnadenlos oder ungnädig zu handeln. Gnadenlosigkeit ist ein Zeichen der Inhumanität."
"Ich würde sagen, dass Gnade ein Moment des Verzeihens ist. Das fällt nicht ganz zusammen, weil man ja großzügig auch in anderen Situationen sein kann, wo es nicht um Unrecht oder Schuld geht. Gnade ist ein Moment, in dem wir durch die Arbeit an der Schuld hindurchgegangen sind, dann bekommt das Verzeihen den Glanz der Gnade."
Käte Meyer-Drawe unterrichtet Erziehungswissenschaften an der Ruhr-Universität Bonn. Sie ist der Meinung, dass das menschliche Verzeihen der göttlichen Gnade ähnlich ist und zwar in dem Moment, als beide im Wesentlichen nicht in einem Sprechakt bestehen, sondern in bloßem Handeln und Zuwenden:
"Es ist überhaupt nicht berechenbar und verfügbar, es ist eine hochfragile Geste. Und deswegen meine ich auch, sie erträgt die Versprachlichung nicht. Hier richtet Sprache etwas an, wenn gesagt wird, Ich verzeihe ihm oder dir. Das ist nicht das, was die Verzeihung ausmacht."
Warum ist dieser Sprechakt so schwierig? Ist es eine Anmaßung?
"Als ich die Möglichkeiten prüfte, wie Verzeihung Ausdruck finden kann, als ich immer weniger in Händen hielt, es immer fragiler wurde, und immer schwieriger wurde, teilbare Erfahrungen zu schildern, habe ich den Satz ausprobiert 'Ich verzeihe dir'. Wenn man dem nachhört, wird das Ich darin ja enorm prominent und genau das, was ich sagen möchte zur Vergebung, dass sie nicht in meiner Verfügung steht, dass die Macht der Verzeihung der Vergebung immer in den Rücken fällt, wird sprachlich konterkariert. Weil das Ich in diesem Sprechakt so prominent ist und dann bin ich der Überlegung nachgegangen, vielleicht ist Verzeihen ja gar kein Sprechakt und kommt daher in mancher Theorie kommunikativen Handelns gar nicht vor – wie überhaupt mir aufgefallen ist, dass über Verzeihen sehr wenig geschrieben wird."
Doch das Verzeihen ist nicht nur ein schwieriger Akt, weil es ohne Sprache auskommen muss, sondern weil die Voraussetzung in der Bereitschaft dazu liegt.
Ist Verzeihen lernbar?
"Das ist die Frage aufs Ganze. Wenn ich bei dem bleibe, was ich gesagt habe, ist Verzeihen kein Denkakt, es ist ein Zustand, ein Klima, eine Atmosphäre, ein leibliches Ausdrucksverhalten, das ohnehin nicht in Denken zu überführen ist....Und dafür brauchen wir – ich Liebe das Wort von Michel Foucault – Heterotopien. Wir brauchen nicht Utopien, sondern diese fremden Räume, in denen es die gibt, die das Unkalkulierbare, Unbestimmbare, Unscharfe retten."
Mit Heterotopien bezeichnete der französische Philosoph Michel Foucault in den 70er-Jahren Orte, die ihre eigenen Gesetzmäßigkeiten ausprägen und zwar solche, die gesellschaftlich nicht oder noch nicht anerkannt sind und dadurch die bestehenden Verhältnisse in Frage stellen. Heterotopien sind außerdem Räume, die mit ihrer Umgebung, auf vielfältige, oft widersprüchliche Weise verbunden sind.
"So wie wir unsere Toten auf Friedhöfen haben, und sie uns von dort aus an unseren Tod erinnern, brauchen wir Heterotopien, um diese fragilen mitmenschlichen Beziehungen in Erinnerung zu halten und unsere Annäherung zu verstärken."
Käte Meyer-Drawe fordert dazu auf, nach Denkarten zu suchen, die gerade nicht populär oder aktuell sind.
"Wir überlassen alle Diskursfelder ganz bestimmten Denkkollektiven und Beschreibungsgewohnheiten und ziehen uns hier zurück und finden uns sehr schnell einer Meinung. Die offizielle Rede geht über Standards, über Messungen, dann war auch hier schon wieder die Hirnforschung zugange, als wenn die nur irgendetwas über Verzeihen sagen könnte. Ich würde einfach schlicht sagen, es gibt kein neuronales Korrelat zum Verzeihen. Das ist eine ängstliche Gesellschaft, die nach jeder Lösung greift, von der sie glaubt, dass sie handhabbar ist, wie ein Kochrezept."
"Ich glaube, dass wir nur in bestimmten Lebenssituationen in der Lage sind, diese Gnade, die wir bei unseren Mitmenschen finden, auch wahrzunehmen. Da muss schon eine Empfindsamkeit, die in uns geweckt werden muss und die nicht immer vorhanden ist, die muss sehr wach sein."
Diese Sicht entspricht ganz der Auffassung Martin Luthers. Er war der Meinung, Gnade hänge von der persönlichen Beziehung des Einzelnen zu Gott ab. Gnade könne der Einzelne nicht ohne seine Bereitschaft oder gar wider seinen Willen erfahren. Kann also Gnade doch auf Grenzen stoßen, wo sie doch einer grenzenlosen Großzügigkeit entspringt? Gnade provoziert Widersprüche, sie ist ebenso so schwierig zu denken wie die Vorstellung von der Unendlichkeit. Gunther Wenz, Theologe:
"Es gibt vieles, was wir nicht verstehen und unser Nichtverstehen oder Missverstehen, kann in völliger Ratlosigkeit enden. Es gibt auch ein Nichtverstehen ganz anderer Art, eines, das in hohem Maße beglückt. Selbst die höchste Form des Begreifens muss sich in einem Unbegreiflich getragen wissen, so, dass dieses Unbegreifliche unser Begreifen nicht zunichte macht, sondern ermöglicht. Alles Sichwundern und Staunen in der Welt ist immer mit dem Unbegreiflichen versehen."
"Ich hab abgetrieben. Das war für mich ganz schlimm, mit dieser Schuld zu leben. Dann bin ich noch mal schwanger geworden, obwohl ich das gar nicht wollte und der Mann hat nicht gepasst, aber ich wusste, ich schaffe eine zweite Abtreibung nicht. Und dann ist dieses Kind gestorben. Das war für mich Fügung, das war Gnade, dass ich es nicht erleben musste. Und dieses zweite Erlebnis hat mir stark geholfen, um mit dem ersten fertig zu werden."
"Wenn man in der Intensivstation gelegen hat und man hört schon die Stimmen der Ärzte – da war ich kollabiert – und die holen einen zurück. In solch einer Situation habe ich Gnade erfahren. Überhaupt Leben zu schenken, ist für mich eine Gnade. Wenn überhaupt, würde ich leben dürfen, als Gnade bezeichnen."
Gnade kann höchst unterschiedlich erlebt werden. Nur eine Erfahrung bleibt immer gleich: Gnade erfordert keine Gegenleistung.
Gnade und Demut - Begriffe, die es neu zu denken gilt, nicht nur von amerikanischen Staatsmännern.
Glück oder Gnade.
"Diese Vergebung zu erfahren ist mir noch nicht passiert, auch weil ich glaube, dass mir ein unverzeihlicher Akt noch nicht passiert ist. Ich hab schon viel Mist gemacht, aber nicht was, wo ich auf Gnade angewiesen wäre."
Glück gehabt.
Wie interpretieren wir unsere Lebensgeschichte und damit auch Ereignisse, die wir nicht beeinflussen können? Momente übergroßer Freude, Erleichterung, Hoffnung, Rettung aus einer ausweglosen Situation oder einfach nur die Tatsache, dass gerade nichts Gravierendes ansteht, dass nichts die täglichen Aufgaben und Pläne behindert, und wir verschont sind?
"Ich bin kein gläubiger Mensch im Sinne der christlichen Kirche, aber ich glaube schon, dass es etwas Göttliches ist, das Göttliche stellvertretend, das wir schwer benennen können, auch in der großen Liebe, die in uns allen vorhanden ist, auch versteckt, auch vergraben. Ich denke, dass es etwas Göttliches ist durch die Liebe, die wir potenziell in uns haben, dass das die Gnade beinhaltet."
"Die Begegnung mit meiner jetzigen Frau, das war schon Fügung."
Gott sei mir gnädig nach deiner Güte, tilge meine Sünden nach deiner großen Barmherzigkeit, wasche mich rein von aller Sünde ...
Heißt es in Psalm 51.
Gnade - ein unzeitgemäßes Wort, ebenso wie:
"Reue, Gunst, Barmherzigkeit, Güte, Demut."
Gnade - ein Wort, das selten ausgesprochen wird. Spontan fallen einem nur zwei Standardsituationen ein: entweder im religiösen Zusammenhang, während einer Messe oder in der Werbung. Dort sind Kühlschränke, Krankenkassen und Caddy Pick Ups "gnadenlos billig". In diesem Zusammenhang erscheint Gnade dann endlich als ein völlig verschlissenes Wort.
Allerdings: Hat nicht der neue Präsident der Vereinigten Staaten, Barack Obama seine Antrittsrede am 20. Januar mit dem Appell in das Vertrauen auf Gottes Gnade beendet und dafür den Jubel von zwei Millionen Menschen geerntet?
"... den Blick fest auf den Horizont gerichtet, haben wir mit Gottes Gnade dieses großartige Geschenk der Freiheit bewahrt und zukünftigen Generationen heil übergeben."
Zweifellos bekannte sich Obama in seiner Rede noch einmal zu den ganz großen Gefühlen und Werten ohne scheu vor religiösem Pathos. Auch von "being humble", also von "demütig sein" war die Rede. Sind diese Worte nurmehr für einen amerikanischen Staatsmann zu gebrauchen, sind sie in den ganz exklusiven, feierlichen Momenten der Menschheitsgeschichte möglich?
"Früher hab ich gedacht, das Leben ist steuerbar und planbar, heute weiß ich, dass das nicht so ist, dass es eher von Zufälligkeiten oder Lebensereignissen geprägt ist, die man sich nicht aussuchen kann und daher meine ich, leben wir alle aus einer großen Gnade, so wie die Buddhisten auch denken und fühlen. "
Um Gnade zu bitten, erscheint als ein unzeitgemäßer Akt, denn er widerstreitet dem Selbstbewusstsein des modernen Menschen, wonach Erfolg allein auf Willensleistung und einem selbst erarbeiteten Kompetenzvorsprung beruht.
Das große Versprechen dieser Freiheit hat aber auch eine Kehrseite, denn es formuliert ein ziemlich verkürztes, ja gnadenloses Verlierer-Prinzip: Wer nicht genug Schmackes hat, um täglich seine Hanteln zu wuppen, seinen Kollegen auf der Zielgeraden zur Chefetage zu überholen oder in Krisenzeiten seine Statussymbole zu retten, der ist selbst Schuld – und ergo: er hats wohl nicht anders verdient. Der amerikanische Soziologe Richard Sennett hat bereits vor gut zehn Jahren in seinem bekannten Buch "The Corrosion of Character" – deutscher Titel "Der flexible Mensch" - gezeigt, wohin dieses Egoprinzip führt:
"Der Gewinner bekommt alles. Er strahlt in der Organisation der Wirtschaft Gleichgültigkeit aus, wo das Fehlen von Vertrauen keine Rolle mehr spielt, wo Menschen behandelt werden, als wären sie problemlos ersetzbar oder überflüssig. Solche Praktiken vermindern für alle sichtbar und brutal das Gefühl persönlicher Bedeutung."
Statt "brutal" könnte man auch sagen "gnadenlos".
Gnade ist ein Akt der persönlichen Zuwendung, ein gnadenloser Umgang mit Mitarbeitern in einem Unternehmen bedeutet, dass der Respekt vor dem Einzelnen nicht mehr zählt. Kein Wort drückt dies unmittelbarer aus als der Begriff "Human Capital", zu deutsch "Humankapital", im Jahr 2004 von der "Gesellschaft für deutsche Sprache" zum Unwort des Jahres gewählt.
Der Gebrauch dieses Wortes aus der Wirtschaftssprache breitet sich zunehmend auch in nichtfachlichen Bereichen aus und fördert damit die primär ökonomische Bewertung aller denkbaren Lebensbezüge, wovon auch die aktuelle Politik immer mehr beeinflusst wird. Humankapital degradiert nicht nur Arbeitskräfte in Betrieben, sondern Menschen überhaupt zu nur noch ökonomisch interessanten Größen.
In der christlichen Theologie meint Gnade ein unverdientes, ein bedingungsloses Geschenk – ein Geschenk Gottes. Unverdient, weil es nicht eine bestimmte Gegenleistung voraussetzt, sogar im Gegenteil, weil es trotzdem gewährt wird, trotzdem jemand versagt hat, ja sogar weil jemand gefehlt hat. Die Idee der Gnade hat mit materialistischen Reziprozitätsverhältnissen nichts zu tun. Daher könnte man sogar folgern, dass Gnade nicht nur eine unverdiente, sondern sogar eine ungerechte Geste sei. Gnade vor Recht ergehen lassen - Verbrecher werden schließlich auch be-gnadigt. Gunther Wenz, Leiter des Instituts für Fundamentaltheologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München:
"Ich versuche mal den Begriff der Gnade mit dem der Freigiebigkeit zu umschreiben. Ein freies Geben und zwar nicht nur ein freies Geben irgendeiner Gabe, sondern das Geben einer Gabe, das der Geber selbst ist. Sich-geben wäre nach meinem Dafürhalten die beste Umschreibung des Begriffes der Gnade. Wenn Gott wie in der Theologie der Fall, als der Inbegriff und Grund aller Gnade bezeichnet wird, dann eben deshalb, weil er bereit und in der Lage ist, sich selbst vorbehaltlos zu geben."
"Barmherzig und gnädig ist der Herr, geduldig und von großer Güte."
Heißt es in Psalm 103. Gnade kann man - übrigens wie die Liebe - nicht einfordern, nicht erkämpfen. Gnade geschieht einfach.
"Mein Mann ist an Krebs gestorben vor ein paar Jahren und wir hatten zehn Monate, in denen wir das wussten und so schlimm diese Zeit und diese Situation war, sie hat mich innehalten lassen in diesem sonst oft sehr schnellen Lebensrhythmus, in dem man hastet und sich Dingen verschließt, die einem in dieser Situation plötzlich offenbar werden ... In so vielen kleinen Dingen habe ich so unglaublich viel Gutes und Schönes, was mich gestärkt hat, von meinen Freunden und den Menschen von meiner Umgebung erfahren und habe später, nachdem diese Situation vorbei war, habe ich gemerkt, dass diese unglaubliche Empfindsamkeit, die in dieser Situation so offen gelegt wurde und mir diese vielen wunderschönen Begegnungen mit Menschen ermöglicht hat, wieder weniger geworden ist."
Paulus hat den Begriff der Gnade stark mit dem Erlösungsgedanken verbunden. Im Brief an die Epheser schreibt er:
"Aus Gnade seid ihr gerettet. Er hat uns mit Christus auferweckt und uns zusammen mit ihm einem Platz im Himmel gegeben. Dadurch, dass er in Christus Jesus gütig an uns handelte, wollte er den kommenden Zeiten den überfließenden Reichtum seiner Gnade zeigen."
Gnade erscheint hier auch als ein Akt der Großzügigkeit, überfließender Reichtum.
Gleichzeitig enthält dieses Bild auch unzeitgemäße Konnotationen:
Gnade evoziert das Bild einer Autorität, die sich zu einem Schwächeren herunterbeugt. Es ist kein symmetrisches Verhältnis, denn der Mensch kann sich kaum revanchieren – oder doch?
"Es gibt ein gnädiges Verhalten, das in die Kompetenz der menschlichen Moral fällt. Und in dem Sinne gibt es auch das sittliche Gebot, nicht gnadenlos oder ungnädig zu handeln. Gnadenlosigkeit ist ein Zeichen der Inhumanität."
"Ich würde sagen, dass Gnade ein Moment des Verzeihens ist. Das fällt nicht ganz zusammen, weil man ja großzügig auch in anderen Situationen sein kann, wo es nicht um Unrecht oder Schuld geht. Gnade ist ein Moment, in dem wir durch die Arbeit an der Schuld hindurchgegangen sind, dann bekommt das Verzeihen den Glanz der Gnade."
Käte Meyer-Drawe unterrichtet Erziehungswissenschaften an der Ruhr-Universität Bonn. Sie ist der Meinung, dass das menschliche Verzeihen der göttlichen Gnade ähnlich ist und zwar in dem Moment, als beide im Wesentlichen nicht in einem Sprechakt bestehen, sondern in bloßem Handeln und Zuwenden:
"Es ist überhaupt nicht berechenbar und verfügbar, es ist eine hochfragile Geste. Und deswegen meine ich auch, sie erträgt die Versprachlichung nicht. Hier richtet Sprache etwas an, wenn gesagt wird, Ich verzeihe ihm oder dir. Das ist nicht das, was die Verzeihung ausmacht."
Warum ist dieser Sprechakt so schwierig? Ist es eine Anmaßung?
"Als ich die Möglichkeiten prüfte, wie Verzeihung Ausdruck finden kann, als ich immer weniger in Händen hielt, es immer fragiler wurde, und immer schwieriger wurde, teilbare Erfahrungen zu schildern, habe ich den Satz ausprobiert 'Ich verzeihe dir'. Wenn man dem nachhört, wird das Ich darin ja enorm prominent und genau das, was ich sagen möchte zur Vergebung, dass sie nicht in meiner Verfügung steht, dass die Macht der Verzeihung der Vergebung immer in den Rücken fällt, wird sprachlich konterkariert. Weil das Ich in diesem Sprechakt so prominent ist und dann bin ich der Überlegung nachgegangen, vielleicht ist Verzeihen ja gar kein Sprechakt und kommt daher in mancher Theorie kommunikativen Handelns gar nicht vor – wie überhaupt mir aufgefallen ist, dass über Verzeihen sehr wenig geschrieben wird."
Doch das Verzeihen ist nicht nur ein schwieriger Akt, weil es ohne Sprache auskommen muss, sondern weil die Voraussetzung in der Bereitschaft dazu liegt.
Ist Verzeihen lernbar?
"Das ist die Frage aufs Ganze. Wenn ich bei dem bleibe, was ich gesagt habe, ist Verzeihen kein Denkakt, es ist ein Zustand, ein Klima, eine Atmosphäre, ein leibliches Ausdrucksverhalten, das ohnehin nicht in Denken zu überführen ist....Und dafür brauchen wir – ich Liebe das Wort von Michel Foucault – Heterotopien. Wir brauchen nicht Utopien, sondern diese fremden Räume, in denen es die gibt, die das Unkalkulierbare, Unbestimmbare, Unscharfe retten."
Mit Heterotopien bezeichnete der französische Philosoph Michel Foucault in den 70er-Jahren Orte, die ihre eigenen Gesetzmäßigkeiten ausprägen und zwar solche, die gesellschaftlich nicht oder noch nicht anerkannt sind und dadurch die bestehenden Verhältnisse in Frage stellen. Heterotopien sind außerdem Räume, die mit ihrer Umgebung, auf vielfältige, oft widersprüchliche Weise verbunden sind.
"So wie wir unsere Toten auf Friedhöfen haben, und sie uns von dort aus an unseren Tod erinnern, brauchen wir Heterotopien, um diese fragilen mitmenschlichen Beziehungen in Erinnerung zu halten und unsere Annäherung zu verstärken."
Käte Meyer-Drawe fordert dazu auf, nach Denkarten zu suchen, die gerade nicht populär oder aktuell sind.
"Wir überlassen alle Diskursfelder ganz bestimmten Denkkollektiven und Beschreibungsgewohnheiten und ziehen uns hier zurück und finden uns sehr schnell einer Meinung. Die offizielle Rede geht über Standards, über Messungen, dann war auch hier schon wieder die Hirnforschung zugange, als wenn die nur irgendetwas über Verzeihen sagen könnte. Ich würde einfach schlicht sagen, es gibt kein neuronales Korrelat zum Verzeihen. Das ist eine ängstliche Gesellschaft, die nach jeder Lösung greift, von der sie glaubt, dass sie handhabbar ist, wie ein Kochrezept."
"Ich glaube, dass wir nur in bestimmten Lebenssituationen in der Lage sind, diese Gnade, die wir bei unseren Mitmenschen finden, auch wahrzunehmen. Da muss schon eine Empfindsamkeit, die in uns geweckt werden muss und die nicht immer vorhanden ist, die muss sehr wach sein."
Diese Sicht entspricht ganz der Auffassung Martin Luthers. Er war der Meinung, Gnade hänge von der persönlichen Beziehung des Einzelnen zu Gott ab. Gnade könne der Einzelne nicht ohne seine Bereitschaft oder gar wider seinen Willen erfahren. Kann also Gnade doch auf Grenzen stoßen, wo sie doch einer grenzenlosen Großzügigkeit entspringt? Gnade provoziert Widersprüche, sie ist ebenso so schwierig zu denken wie die Vorstellung von der Unendlichkeit. Gunther Wenz, Theologe:
"Es gibt vieles, was wir nicht verstehen und unser Nichtverstehen oder Missverstehen, kann in völliger Ratlosigkeit enden. Es gibt auch ein Nichtverstehen ganz anderer Art, eines, das in hohem Maße beglückt. Selbst die höchste Form des Begreifens muss sich in einem Unbegreiflich getragen wissen, so, dass dieses Unbegreifliche unser Begreifen nicht zunichte macht, sondern ermöglicht. Alles Sichwundern und Staunen in der Welt ist immer mit dem Unbegreiflichen versehen."
"Ich hab abgetrieben. Das war für mich ganz schlimm, mit dieser Schuld zu leben. Dann bin ich noch mal schwanger geworden, obwohl ich das gar nicht wollte und der Mann hat nicht gepasst, aber ich wusste, ich schaffe eine zweite Abtreibung nicht. Und dann ist dieses Kind gestorben. Das war für mich Fügung, das war Gnade, dass ich es nicht erleben musste. Und dieses zweite Erlebnis hat mir stark geholfen, um mit dem ersten fertig zu werden."
"Wenn man in der Intensivstation gelegen hat und man hört schon die Stimmen der Ärzte – da war ich kollabiert – und die holen einen zurück. In solch einer Situation habe ich Gnade erfahren. Überhaupt Leben zu schenken, ist für mich eine Gnade. Wenn überhaupt, würde ich leben dürfen, als Gnade bezeichnen."
Gnade kann höchst unterschiedlich erlebt werden. Nur eine Erfahrung bleibt immer gleich: Gnade erfordert keine Gegenleistung.
Gnade und Demut - Begriffe, die es neu zu denken gilt, nicht nur von amerikanischen Staatsmännern.