Glück und Grauen
Unaufgeregt vom Grauen wie vom Glück erzählt Michael Köhlmeier auf den 13 CDs seiner "Märchenwelten". Das Hervorragendste an dieser Sammlung sind aber nicht die Märchen, sondern die Vorworte, die der Geschichtenerzähler jedem der fünf Kapitel voranstellt.
"Einmal war's, keinmal war's. Jenseits von sieben mal sieben Ländern und eine krumme Spanne noch darüber, da war einmal ein armer Mann."
Schon in zwei Sätzen kann man spüren, dass Michael Köhlmeier hier zu keinem deutschen Märchen anhebt: Die Geschichte vom armen Mann erzählt man sich in Ungarn. Auch die restlichen Märchen stammen buchstäblich aus aller Herren Länder. Von Nordamerika über Südostafrika, Norwegen, Mazedonien oder der Türkei bis Korea, Japan und Australien. Und doch, bei allen regionalen Besonderheiten, sind sich die Märchen überraschend ähnlich.
"Und er erzählte ihnen, wie er über den Fluss geritten und in die Stadt gekommen sei, wie er beim Grafen Aufnahme gefunden und dessen Tochter geheiratet habe, er erzählte von seinen Söhnen und Töchtern und Enkelkindern. Man hat von dieser Geschichte lange gesprochen. Es ist aber auch schon einige Zeit her. Das ist alles. So erzählt man in der Karibik."
Was sämtliche Märchen verbindet, sind die kruden Zufälle und kleinen Ungereimtheiten, die eigenwilligen Gesetze, auf denen ihre Dramaturgie beruht. Vielleicht spiegelt sich darin die allgemeinmenschliche Lust am Fabulieren wider, an guten Geschichten, die mehr wert sind als etwas Nebensächliches wie Logik. In manchen Gegenden geht es allerdings noch viel grausamer zu, als bei den nicht gerade zartbesaiteten Brüdern Grimm.
Da werden auf Äckern böse Eltern zu Tode geschleift (Russland) – oder ganze Dorfgemeinschaften schneiden sich vor Verzweiflung die Kehle durch (Südostafrika). Michael Köhlmeier erzählt unaufgeregt vom Grauen wie vom Glück. Er lässt sich und dem Zuhörer Zeit. Sacht, aber sehr lebendig charakterisiert er die Figuren und schildert, was ihnen widerfährt. Mit einer angenehmen, lebenserfahrenen, leicht brüchigen Stimme.
"Nun geschah es eines Tages, dass die Nachbarn auf der Tenne arbeiteten. Zur Mittagszeit aber hörten sie irgend etwas singen. 'Geschlachtet hat Väterchen die Seele mein, gebraten hat Mütterchen die Seele mein. Schwesterchen war hilfsbereit, hat die Knöchelchen betreut. Unterm Tisch begrub sie mich, früh und spät begoss sie mich. Kukuruku, kukuruku.' Und die Arbeitet eilten hin, da war es die Taube."
Was in Grimms Märchen sprechende Tiere, Feen und Zwerge sind, die aus dem Unterholz hervorkriechen, sind in Legenden aus Asien, Afrika oder dem Nordamerika der Ureinwohner Geister und Dämonen. Ganz selbstverständlich existiert hier neben der materiellen Welt eine zweite, unsichtbare.
Die Moralvorstellungen indes unterscheiden sich in der gesamten Märchenwelt nicht sehr: Der Böse, der die geltenden Gesetze bricht, wird bestraft und der Fleißige, der alle Prüfungen meistert, belohnt. Mit Reichtum, einem langen Leben und, das gilt vom Fernen Osten bis in die Karibik, oft auch mit der Hand der Herrschertochter.
"Sie kehrten vom schrecklichen Gebirge heim und lebten nun in Glück und Zufriedenheit miteinander, bis auch sie ins ewige Reich der Toten übersiedeln mussten. So erzählen uns die Zigeuner."
Das Schönste, das Hervorragendste an dieser Sammlung sind aber nicht die Märchen. Sondern die Vorworte, die Michael Köhlmeier jedem der fünf Kapitel voranstellt. Darin spricht er mal konkret über die Gemeinsamkeiten von klassischen Heldensagen, biblischen Geschichten und Volksmärchen. Mal schildert er, hochliterarisch, eine Episode aus dem Leben der Brüder Grimm. Oder er erzählt davon, wie seine Großmutter ihm als Kind Fabeln vorgelesen hat: Das ist pure Poesie.
"Ich hatte es nicht für möglich gehalten, dass die Welt in solche Unordnung gerät, wenn sich die Tiere entschließen, mit uns umzugehen wie wir mit ihnen. Sie denken wie wir; aber nicht, wie wir bei Tag im lieben Sonnenlicht denken, sondern wie wir träumen."
Der Name und die arabeske Aufmachung der Hörbuchbox legen diesen Verdacht zwar nahe, doch als Weihnachtsgeschenk für die lieben Kleinen eignet sich die "Märchenwelt" nicht. Michael Köhlmeier richtet sich eindeutig an erfahrene Zuhörer, an Jugendliche und, vor allem, an Erwachsene. Leider ist die Produktion an verschiedenen Stellen recht lieblos geraten: Die Aufnahmen sind nachlässig geschnitten, es fehlt sogar ein ganzes Märchen, das im Booklet angegeben ist. Diese technische Stümperei hat Michael Köhlmeier nicht verdient. Und er ist es auch, der diese Mängel vergessen macht, sobald er unnachahmlich beiläufig, melancholisch, sehnsuchtsvoll zu erzählen beginnt.
"Sie können sich in unseresgleichen verwandeln, die Tiere. Was für eine Gewissheit hatte ich, dass meine sanfte Großmutter neben mir, die so gut nach Kernseife roch, dass sie nicht in Wirklichkeit eine von ihnen war."
Besprochen von Martin Becker
Michael Köhlmeier: Michael Köhlmeiers Märchenwelten
Der Hörverlag, München 2011
13 CDs, 49,99 Euro
Schon in zwei Sätzen kann man spüren, dass Michael Köhlmeier hier zu keinem deutschen Märchen anhebt: Die Geschichte vom armen Mann erzählt man sich in Ungarn. Auch die restlichen Märchen stammen buchstäblich aus aller Herren Länder. Von Nordamerika über Südostafrika, Norwegen, Mazedonien oder der Türkei bis Korea, Japan und Australien. Und doch, bei allen regionalen Besonderheiten, sind sich die Märchen überraschend ähnlich.
"Und er erzählte ihnen, wie er über den Fluss geritten und in die Stadt gekommen sei, wie er beim Grafen Aufnahme gefunden und dessen Tochter geheiratet habe, er erzählte von seinen Söhnen und Töchtern und Enkelkindern. Man hat von dieser Geschichte lange gesprochen. Es ist aber auch schon einige Zeit her. Das ist alles. So erzählt man in der Karibik."
Was sämtliche Märchen verbindet, sind die kruden Zufälle und kleinen Ungereimtheiten, die eigenwilligen Gesetze, auf denen ihre Dramaturgie beruht. Vielleicht spiegelt sich darin die allgemeinmenschliche Lust am Fabulieren wider, an guten Geschichten, die mehr wert sind als etwas Nebensächliches wie Logik. In manchen Gegenden geht es allerdings noch viel grausamer zu, als bei den nicht gerade zartbesaiteten Brüdern Grimm.
Da werden auf Äckern böse Eltern zu Tode geschleift (Russland) – oder ganze Dorfgemeinschaften schneiden sich vor Verzweiflung die Kehle durch (Südostafrika). Michael Köhlmeier erzählt unaufgeregt vom Grauen wie vom Glück. Er lässt sich und dem Zuhörer Zeit. Sacht, aber sehr lebendig charakterisiert er die Figuren und schildert, was ihnen widerfährt. Mit einer angenehmen, lebenserfahrenen, leicht brüchigen Stimme.
"Nun geschah es eines Tages, dass die Nachbarn auf der Tenne arbeiteten. Zur Mittagszeit aber hörten sie irgend etwas singen. 'Geschlachtet hat Väterchen die Seele mein, gebraten hat Mütterchen die Seele mein. Schwesterchen war hilfsbereit, hat die Knöchelchen betreut. Unterm Tisch begrub sie mich, früh und spät begoss sie mich. Kukuruku, kukuruku.' Und die Arbeitet eilten hin, da war es die Taube."
Was in Grimms Märchen sprechende Tiere, Feen und Zwerge sind, die aus dem Unterholz hervorkriechen, sind in Legenden aus Asien, Afrika oder dem Nordamerika der Ureinwohner Geister und Dämonen. Ganz selbstverständlich existiert hier neben der materiellen Welt eine zweite, unsichtbare.
Die Moralvorstellungen indes unterscheiden sich in der gesamten Märchenwelt nicht sehr: Der Böse, der die geltenden Gesetze bricht, wird bestraft und der Fleißige, der alle Prüfungen meistert, belohnt. Mit Reichtum, einem langen Leben und, das gilt vom Fernen Osten bis in die Karibik, oft auch mit der Hand der Herrschertochter.
"Sie kehrten vom schrecklichen Gebirge heim und lebten nun in Glück und Zufriedenheit miteinander, bis auch sie ins ewige Reich der Toten übersiedeln mussten. So erzählen uns die Zigeuner."
Das Schönste, das Hervorragendste an dieser Sammlung sind aber nicht die Märchen. Sondern die Vorworte, die Michael Köhlmeier jedem der fünf Kapitel voranstellt. Darin spricht er mal konkret über die Gemeinsamkeiten von klassischen Heldensagen, biblischen Geschichten und Volksmärchen. Mal schildert er, hochliterarisch, eine Episode aus dem Leben der Brüder Grimm. Oder er erzählt davon, wie seine Großmutter ihm als Kind Fabeln vorgelesen hat: Das ist pure Poesie.
"Ich hatte es nicht für möglich gehalten, dass die Welt in solche Unordnung gerät, wenn sich die Tiere entschließen, mit uns umzugehen wie wir mit ihnen. Sie denken wie wir; aber nicht, wie wir bei Tag im lieben Sonnenlicht denken, sondern wie wir träumen."
Der Name und die arabeske Aufmachung der Hörbuchbox legen diesen Verdacht zwar nahe, doch als Weihnachtsgeschenk für die lieben Kleinen eignet sich die "Märchenwelt" nicht. Michael Köhlmeier richtet sich eindeutig an erfahrene Zuhörer, an Jugendliche und, vor allem, an Erwachsene. Leider ist die Produktion an verschiedenen Stellen recht lieblos geraten: Die Aufnahmen sind nachlässig geschnitten, es fehlt sogar ein ganzes Märchen, das im Booklet angegeben ist. Diese technische Stümperei hat Michael Köhlmeier nicht verdient. Und er ist es auch, der diese Mängel vergessen macht, sobald er unnachahmlich beiläufig, melancholisch, sehnsuchtsvoll zu erzählen beginnt.
"Sie können sich in unseresgleichen verwandeln, die Tiere. Was für eine Gewissheit hatte ich, dass meine sanfte Großmutter neben mir, die so gut nach Kernseife roch, dass sie nicht in Wirklichkeit eine von ihnen war."
Besprochen von Martin Becker
Michael Köhlmeier: Michael Köhlmeiers Märchenwelten
Der Hörverlag, München 2011
13 CDs, 49,99 Euro