Glücklose Intervention

Von Sabina Matthay |
Vor zehn Jahren fielen die ersten Bomben auf Afghanistan. Seither ist viel passiert: Die Taliban verlegten sich auf einen Guerillakampf, die alten afghanischen Warlords nutzten die Auseinandersetzungen, um ihre Einflussgebiete abzustecken und zu sichern. Und der einstige Liebling des Westens, Präsident Karzai, hat sich als fragwürdiger Partner entpuppt.
Wann er zum ersten Mal einen ausländischen Soldaten gesehen hat, dass weiß Arif Niazi nicht mehr. Doch an die Vertreibung der Taliban aus seiner Heimatstadt Mazare Sharif erinnert der junge Mann sich noch ganz genau:

"Als die Taliban flohen, spielten wir Fußball auf der Straße. Überall waren Bomben, aber uns war es egal. Denn für uns war es irgendwie normal."

Arifs Vater Mohammad Niazi nahm die Kämpfe ähnlich gelassen:

"Ich hatte damals ein Taxi. Meine Familie wollte, dass ich zuhause bleibe wegen der Kämpfe. Aber ich wollte sehen, was geschah. Vor der Stadtverwaltung von Mazare Sharif lagen 90 Taliban, getötet von B 52-Bombern. In einer Mädchenschule gab es schwere Kämpfe. Ich fuhr überall hin in der Stadt und sah überall Tote. Ja, ich erinnere mich noch genau an den Tag."

Die Niazis hatten keine Sympathien für die Fundamentalisten, obwohl sie zur Volksgruppe der Paschtunen gehören, aus denen die sich rekrutierten. Die Vereinte Front, ein Bündnis gegen das Taliban-Regime, vertrieb die Extremisten Anfang November 2001 innerhalb kurzer Zeit aus deren nordafghanischen Hochburg, mit Unterstützung amerikanischer Spezialkräfte und Kampfbomber. Mohammad Niazi staunte über deren Präzision:

"Wenn ein Taliban in einem Wagen saß, dann trafen sie den, nicht das Auto."

Einen Monat zuvor, am 7. Oktober 2001, hatte der Afghanistan-Feldzug der USA und Großbritanniens begonnen. Kabul, die Hauptstadt und Kandahar, Heimat von Talibanchef Mullah Omar und Jalalabad, waren die ersten Ziele. Dass Operation "Enduring Freedom" die Reaktion auf die Anschläge vom 11. September in den USA war, dass El Kaida, denen die Taliban Unterschlupf in Afghanistan gewährt hatten, die Freistatt in Afghanistan genommen werden sollte, wussten nur wenige Menschen im Lande.

Einer war der Italiener Alberto Cairo, der seit der sowjetischen Besatzung für das Internationale Komitee vom Roten Kreuz am Hindukusch arbeitete und Satellitenfernsehen haben durfte.

"Immer wieder musste ich Afghanen die Geschehnisse beschreiben. Sie hatten ja nur Radio."
Cairos afghanische Kollegen waren schockiert über den Massenmord. Auch Abdul Salam Saif, damals Taliban-Botschafter in Pakistan, kamen die Tränen, als er von den Selbstmordattentaten erfuhr. Aber nicht wegen der Toten, sagt er, sondern wegen der Folgen für seine Heimat:

"Ich wusste, was Amerika wollte, wen Amerika beschuldigen würde."

Nicht Osama Bin Laden habe die Anschläge vom 11. September geplant, nicht die Taliban hätten sie ermöglicht, sagt Saif, der seit der Entlassung aus Guantanamo als Immobilienmakler in Kabul lebt. Es sei eine amerikanische Verschwörung gewesen, um Afghanistan zu erobern. Dass ein Krieg kommen würde, ahnte auch der Journalist Fahim Dashty, doch für ihn war es Anlass zur Hoffnung:

"Nun würden die Taliban besiegt werden, die Feinde Afghanistans und des Widerstands, dem auch ich angehörte. Und ich würde die Niederlage jener erleben, die unseren Anführer Achmad Shah Massoud getötet hatten."

Dashty war bei dem Attentat auf Massoud, Chef der Vereinten Front und Leitfigur des afghanischen Widerstands gegen die Taliban, schwer verletzt worden. Doch seine Hoffnung erfüllt sich: Anfang 2002 hatte das US-geführte Bündnis das Fundamentalisten-Regime des Mullah Omar und dessen El-Kaida-Gäste mit Hilfe der Vereinten Front vertrieben.

Es war eine Chance, sagt Fawzia Kofia. Für ihre Heimat und für sie persönlich. Die Abgeordnete gehört zu der kleinen, aber wachsenden Zahl beherzter afghanischer Frauen, die politische Entscheidungen nicht mehr den Männern überlassen wollen. Bei den letzten Parlamentswahlen erzielte die Witwe und Mutter zweier Töchter eines der besten Ergebnisse im ganzen Land

"Es ist viel Gutes geschehen in Afghanistan. Die Verfassung, demokratische Einrichtungen wie das Parlament, der Zugang von Frauen zu Schulen, zu Arbeit, zur Zivilgesellschaft."

Ja, diese Fortschritte kann niemand bestreiten, sagt Seema Samar, die Vorsitzende der afghanischen Menschenrechtskommission.

"Aber leider waren die Versprechungen zu groß, die Erwartungen überzogen. Und dann wurde soviel nicht eingehalten."

Die Taliban, 2001 vertrieben, aber nicht besiegt, überziehen Afghanistan wieder mit Terror, trotz immer mehr ausländischen und afghanischen Truppen. Präsident Karzai wollte Armut und Korruption bekämpfen, die Infrastruktur wieder aufbauen und die Verwaltung reformieren. Er wollte den Drogenanbau verhindern und den Milizführern den Garaus machen. Doch die Bilanz ist ernüchternd. Die Regierung Karzai verweigere sich ihren Bürgern, sagt Candace Rondeaux, Leiterin des Büros der International Crisis Group in Kabul:

"Diese Regierung will einfach keine Macht abgeben, sie will keinen Wohlstand umverteilen, sie will keine öffentlichen Leistungen außerhalb von Kabul erbringen."

Rechtssicherheit ist ein Fremdwort, Korruption bestimmt den Alltag in den Behörden und wuchert bis in die Staatsspitze. Manipulierte Wahlen haben das Vertrauen in die Demokratie zerstört. Die War Lords, die Afghanistan einst in den Bürgerkrieg trieben, sitzen ganz offiziell an Schaltstellen der Macht.

Opium und Marihuana sind Afghanistans Exportschlager, Jobs dagegen Mangelware. Der ausländische Militäreinsatz und das internationale Aufbauengagement haben zwar das Wirtschaftswachstum angefacht, doch nur wenige profitieren davon. Die Missstände untergraben das Vertrauen der Afghanen in ihren Staat und treiben manche den Taliban in die Arme.

Shah Wali etwa will sich den Rebellen nicht aus religiöser Überzeugung angeschlossen haben, auch wenn bei jedem Anruf noch immer eine Ballade der Gotteskrieger aus seinem Handy schallt. Der drahtige 40-Jährige hat zusammen mit acht Gefolgsleuten die Waffen gestreckt und lebt nun in einer sicheren Unterkunft bei Kabul.

"Nach der Vertreibung der Taliban hatte ich keine Arbeit. Dann kamen die Taliban und warben mich an für den Dschihad gegen die Ausländer."

Doch er und seine Männer seien kampfesmüde, sagt Shah Wali, außerdem wolle er nicht mehr im Sold des pakistanischen Geheimdienstes stehen.

Möglich, dass er die Wahrheit sagt. Möglich auch, dass die Überläufer die Fronten wieder wechseln, wenn das staatliche Reintegrationsprogramm sie enttäuscht. Denn es gibt nicht einmal genug Arbeit für Menschen, die sich nichts haben zuschulden kommen lassen. Die afghanische Wirtschaft hat kein echtes Fundament, das Land bleibt auf internationale Geber angewiesen. Noch einmal Candace Rondeaux:

"Nach dem Sturz der Taliban war man fest überzeugt, dass nicht nur Truppen, sondern auch Geld das Allheilmittel für Afghanistan seien. Ein Irrtum."

Rund 60 Milliarden Dollar sind seit 2002 in den zivilen Aufbau geflossen, doch die Staatengemeinschaft hat schlecht geplant, mangelhaft koordiniert und unzureichend kontrolliert. Und nebenbei die Korruption angeheizt.

Auch die Internationale Schutztruppe ist in den Augen vieler Afghanen diskreditiert: den Aufstand hat sie trotz jetzt 150.000 Soldaten nicht erstickt, ohne die ISAF aber fürchten manche einen Bürgerkrieg.

Doch die Weichen für den Abzug der ausländischen Kampftruppen bis 2014 werden gestellt. In sechs Gebieten hat die Internationale Schutztruppe bereits die Sicherheitsverantwortung an die Afghanen abgegeben, bei einer Übergabefeier sagte ISAF-Kommandeur General John Allen:

"Afghanische Soldaten und Polizisten stellen ab jetzt sicher, dass die Übergabe irreversibel ist."

Ob die Afghanen tatsächlich in der Lage sind, in drei Jahren selbst für ihre Sicherheit zu sorgen, bezweifeln viele Kenner. Oberstleutnant Thomas Blank von der Bundeswehr war bis Juli Chefmentor eines Infanteriebataillons der afghanischen Armee ANA in Kundus:

"Frage, welchen Maßstab man anlegt. Weil wie wir sie hinterlassen würden, wäre mit sehr großen Defiziten mit unserem Verständnis behaftet. Die ANA hat in vielen Bereichen viele Probleme, die noch nicht gelöst sind."

Unterwanderung, Selbstbereicherung und Vetternwirtschaft, Analphabetismus, mangelnde Disziplin und schlechte körperliche Verfassung. Fawzia Kofi spricht aus, was viele Afghanen denken: Bis 2014 werde ihr Land nicht auf eigenen Füßen stehen können.

Leider, so die Politikerin, orientiert das Ausland sich nicht an der Lage in Afghanistan, sondern an der Lage zuhause. Dabei halten Beobachter einen Bürgerkrieg nach dem Abzug der ISAF für immer wahrscheinlicher, besonders seit dem Attentat auf Ex-Präsident Rabbani Mitte September.

"Tod den Taliban, Tod für Pakistan” - Demonstranten verlangten Vergeltung für den Mord an dem prominenten Tadschiken, den die afghanische Regierung mit der Anbahnung von Friedensverhandlungen mit den Aufständischen beauftragt hatte. Ein Plan, den etwa der einstige Taliban-Botschafter Saif von vornherein für irrelevant hielt: Die Aufständischen wollten gar nicht mit der afghanischen Regierung verhandeln.

""Die Taliban kämpfen schließlich gegen die Ausländer, nicht gegen die Regierung."

Der Selbstmordanschlag eines angeblichen Friedensboten der Talibanführung auf Rabbani bedeutet de facto das Ende des Vorhabens. Und er hat Verhärtung der ethnischen und innenpolitischen Fronten befördert:

Keine Verhandlungen mit den Anführern der Mörder des afghanischen Volkes, forderte der ehemalige Geheimdienstchef Saleh jetzt bei einer Demonstration in Kabul. Der Tadschike Saleh war letztes Jahr aus Protest gegen Verhandlungen mit den Taliban von seinem Posten zurückgetreten und profiliert sich nun als Vertreter der nicht-paschtunischen Minderheiten Afghanistans. Der Geheimdienst hat Präsident Karzai unterdessen Ermittlungen außerhalb Afghanistans nahegelegt. Dort sei der Mord an Rabbani geplant worden.

Gemeint ist Pakistan: Gerade hat ein ranghoher US-Militär den Geheimdienst des Verbündeten erstmals öffentlich beschuldigt, er bediene sich der Rebellen gezielt, um Afghanistan aus strategischen Gründen zu schwächen.

Es ist ein offenes Geheimnis, dass das Nachbarland den Aufständischen Unterschlupf gewährt, ihre Terrortrainingslager mindestens duldet und die Planung von Anschlägen nicht unterbindet. Ohne Pakistan aber wird es keinen Frieden in Afghanistan geben.

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