Gluten - das Eiweiß mit dem Januskopf

Von Udo Pollmer |
Kein Brötchen, kein Vollkornbrot, kein Kuchen - Menschen, die an einer Gluten-Unverträglichkeit leiden, müssen ihren Speisezettel drastisch zusammenstreichen. Und die Zahl derer, bei denen das Eiweiß Verdauungsprobleme auslöst, steigt.
Um was geht es bei dieser Umverträglichkeit? Um die sogenannte Zöliakie. Die Betroffenen leiden unter Verdauungsproblemen wie Durchfall, Blähungen, Bauchschmerzen und Gewichtsverlust. Die treten vor allem beim Verzehr von Getreideprodukten auf, namentlich von Weizen, Dinkel, Roggen oder Gerste. Als Auslöser gilt ein Eiweiß, das sogenannte Gluten. Es führt zu Entzündungen des Dünndarms, was die Aufnahme von Nährstoffen stark behindert und zum Abnehmen führt.

Nach dieser Studie hat die Häufigkeit deutlich zugenommen? Ja, bisher wurde darüber viel spekuliert, aber die Daten der Mayoklinik zeigen, dass sich die Zahl der Betroffenen in den letzten 50 Jahren offenbar vervierfacht hat. Die Forscher verglichen Blutproben, die vor über 50 Jahren entnommen worden sind, mit aktuellen Proben von Menschen im gleichen Alter wie die damaligen Probanden.

Was sind die Ursachen? Die Experten sprechen ganz allgemein von "Umweltfaktoren". Klingt stark nach Verlegenheitsdiagnose. Aber wir kennen durchaus ernsthafte Faktoren. Das Erstaunliche ist, dass viele Patienten unter bestimmten Umständen durchaus Weizenmischbrote vertragen. Allerdings müssen die Brote korrekt hergestellt sein – so wie noch vor 50 Jahren üblich. Der Grund ist die klassische Sauerteigführung. Sie sorgt für einen Abbau der riskanten Eiweiße. Aber das muss jeder selbst ausprobieren – vor allem deshalb, weil auf die Aussagen der Bäcker keinerlei Verlass ist. Womöglich hängt die Zunahme mit der veränderten Backtechnik zusammen. Die modernen, schnellen Verfahren der Teigbildung, wie sie bei uns seit Jahrzehnten praktiziert werden, verhindern den fermentativen Abbau der toxischen Eiweiße. Kein Wunder, wenn immer mehr Menschen krank werden.

Und was sagen die Bäcker dazu? Die haben ein großes Forschungsprojekt angeschoben, um per Gentechnik die fraglichen Eiweißabschnitte herauszuzüchten. Mit normalem Kreuzen geht das leider nicht. Aber das ist nicht so einfach, denn das Gluten sorgt auch für die Backfähigkeit. Aus diesem Grund wird zahlreichen Brotsorten sowie Brötchen sogar eine Portion Gluten extra zugesetzt. Das Gluten ist ein Nebenprodukt der Stärkegewinnung.

Wenn die Fermentation so wichtig ist, wie steht‘s dann ums Müsli? Es wäre kaum verwunderlich, wenn der stark gestiegene Müslikonsum, also von rohem Getreide, ebenfalls zum Auftreten der Zoeliakie beiträgt. Das Merkwürdige ist nur, dass hierzu in den großen Datenbanken keinerlei Studien aufzufinden sind, obwohl man ständig Krankheiten mit dem Verzehr von Vollkorn korreliert, in der Hoffnung, einen Schutzeffekt zu finden. Die Daten muss es geben, aber sie sind nicht veröffentlicht.

Wie viele Menschen leiden unter Zöliakie? Das weiß man nicht so genau – man schätzt einer von 200. Aber das ist sehr spekulativ, einfach deshalb, weil es neben den Darmproblemen – die natürlich auch zahlreiche andere Ursachen haben können – noch weitere Symptomatiken gibt, die ganz anders aussehen. Vor allem neurologische und psychiatrische Erkrankungen werden darauf zurückgeführt. Aber das wissen eben nur ganz wenige Spezialisten. Diese stark divergierenden Symptome hängen offenbar damit zusammen, dass im Gluten nicht nur ein Eiweißabschnitt toxisch ist, sondern viele verschiedene. Je nach Empfindlichkeit gibt’s jedes Mal ein ganz anderes Krankheitsbild.

Psychische Erkrankungen durch Weizen, das klingt schon etwas exotisch. Na ja, seit langem ist bekannt, dass im Weizeneiweiß ein Exorphin enthalten ist, also ein Eiweißabschnitt, der beim Menschen die Opiatrezeptoren besetzt, die Laune hebt und bei manchen Personen die Darmperistaltik bremst. Daher auch die gelegentlichen Fälle von Verstopfung durch Weißbrot. Wegen diesem
Exorphin hat sich der Weizen auch global gegenüber anderen Körnerarten durchgesetzt. Deshalb schmeckt uns das so gut. Wer es verträgt, mag es mit Freude genießen. Und wer Getreide verarbeitet, soll es im Grundsatz wieder so tun, wie es jahrtausendelang praktiziert wurde.

Literatur:
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