Gefühlte Unverträglichkeiten
Ganze Regale sind gefüllt mit Produkten für "Ernährungssensible". Immer mehr Menschen ohne echte Unverträglichkeit verzichten freiwillig auf Stoffe wie Laktose, Gluten oder Fructose. Das ist übertrieben und unsinnig, findet die Wissenschaftsjournalistin Susanne Schäfer.
Neulich erzählte mir eine Bekannte, sie müsse beim Kindergeburtstag ihrer Tochter jetzt immer zwei Kuchen backen: einen mit und einen ohne Gluten. Mit Gluten genüge inzwischen ein kleiner Kuchen, der ohne müsse dafür umso größer sein. Denn die meisten Kinder, die zu Geburtstagfeiern kommen, dürfen den Stoff heute nicht mehr essen, sagte meine Bekannte. Die Kinder seien zu empfindlich dafür, meinen die Eltern.
Riesige Produktpalette für "Ernährungssensible"
Gluten ist ein Eiweiß, das in Getreidesorten wie Weizen, Roggen und Dinkel vorkommt, und es gilt heute als böse. In Wirklichkeit schadet es nur sehr wenigen Menschen, nämlich denen, die an der ernsten Erkrankung Zöliakie leiden. Auch die Laktose, die in Wirklichkeit nur für Menschen mit einer Laktoseintoleranz unangenehm ist, lässt man heute lieber weg. Und bestellt den Cappuccino mit Sojamilch, die Menschen mit funktionsfähigen Geschmacksnerven eigentlich nicht zuzumuten ist.
Im Supermarkt sind ganze Regale gefüllt mit Produkten für "Ernährungssensible". Inzwischen gibt es nicht nur die ganze Palette von Knuspermüsli bis zu Orangenkeksen in der glutenfreien Variante – nein, sogar glutenfreies Katzenfutter und glutenfreies Shampoo kann man heute kaufen. Und in einem Dating Portal gleich einen glutenfreien Partner suchen. Kein Witz.
Mehr gefühlte Allergiker als echte
Noch vor zehn Jahren kannte ich nur ein paar vereinzelte Allergiker, die aufpassen mussten, dass sie keine Nüsse oder keinen Sellerie erwischten. Heute pflegen immer mehr Menschen ihre Empfindlichkeiten. Selbst Grundnahrungsmittel scheinen für viele nicht mehr zumutbar zu sein.
Natürlich gibt es echte Allergien und Unverträglichkeiten, keine Frage. Und wer daran leidet, muss wirklich darauf achten, dass seine Milch keine Laktose enthält, sein Brot kein Gluten oder seine Marmelade nur wenig Fruktose. Aber auch andere Menschen machen sich übergroße Sorgen ums Essen – und lehnen freiwillig ganze Gruppen von Lebensmitteln ab.
Umfragen zeigen, dass wir es hier keineswegs mit einem Nischenphänomen zu tun haben. Jeder vierte Deutsche glaubt, bestimmte Nahrungsmittel nicht mehr zu vertragen. Und: Es gibt mehr gefühlte Patienten als echte.
Ein Beispiel: Neun Prozent der Deutschen verzichten schon ganz oder teilweise auf Gluten. Doch nur etwa 0,3 Prozent leiden an der Krankheit Zöliakie, bei der man den Stoff wirklich streng meiden muss. Ob es zusätzlich eine Überempfindlichkeit gegen Gluten gibt, ist unter Medizinern noch hoch umstritten. Das heißt: Es gibt sie, die gefühlten Unverträglichkeiten. Und sie sind weit verbreitet.
Ernährung als Ersatzreligion
Warum aber lassen wir uns dermaßen die Lust am Essen verderben? Nun, das liegt auch am Gesundheitsideal: Jeder ist aufgefordert, sich bis ins hohe Alter gesund und fit zu halten. Den Schlüssel zur ewigen Gesundheit sehen wir in der Ernährung. Diverse Gurus bedienen diese Sehnsüchte und predigen eine Spezialernährung, von Rohkost bis zur Steinzeitdiät. So wird die Ernährung heute vielen zu einer Ersatzreligion.
Dubiose Lehren locken mit großen Heilsversprechen: Krankheiten sollen verschwinden, der Körper soll gestählt und praktisch unverwundbar werden. Die Nahrungstabus, die es auch in echten Religionen gibt, werden zum zentralen Inhalt der Ernährungslehren. Durch Regeln und Rituale strukturieren sie den Alltag. Manche finden darin Halt.
Genuss in Gefahr
Und trotzdem können die Verbote schaden: Besorgte Eltern setzen ihre Kinder oft auf radikale Diäten und glauben, ihnen damit etwas Gutes zu tun. In Wirklichkeit erreichen viele damit das Gegenteil: Die Kinder erleiden Mangelerscheinungen. Wenn wir das Essen immer nur einem Zweck unterwerfen, dann geht auch für unsere Esskultur etwas Wichtiges verloren und zwar der Genuss. Da hilft nur eines: ein gutes Baguette mit viel Gluten kaufen, reinbeißen – und sich freuen.