Goehler: Vom Sozialstaat zur Kulturgesellschaft

Nach Auffassung der scheidenden Kuratorin des Hauptstadtkulturfonds Berlin, Adrienne Goehler, ist der Sozialstaat "an sein klassisches Ende" gekommen. Die Kulturpolitikerin forderte daher eine flexible und ressortübergreifende Finanzierung von Kultur- und Sozialprojekten, um den neuen Arbeitsformen gerecht zu werden.
Liane von Billerbeck: Glaubt man manchem Politiker, dann ist es noch immer der Traum von Millionen Menschen, hinter dem Schalter zu sitzen und von 8 bis 17 Uhr geregelt zu arbeiten. Aber: Ist das so und ist das eigentlich erstrebenswert? Sollte man nicht die Verkrustungen der Arbeitswelt verflüssigen und von denen lernen, die aus dem klassischen Vollzeiterwerbsmodell herausgefallen sind und unter gänzlich neuen Umständen leben? Darüber spreche ich jetzt mit Adrienne Goehler, sie ist hier im Studio. Guten Tag, Frau Goehler.

Adrienne Goehler: Guten Tag.

Von Billerbeck: Sie sind ja studierte Psychologin, waren in Hamburg Präsidentin der Hochschule der Künste, in Berlin kurze Zeit Senatorin für Kultur und Wissenschaft und Sie haben heute Ihren letzten Arbeitstag als Kuratorin des Hauptstadtkulturfonds und haben jetzt ein Buch geschrieben. Sie haben ja in Berlin nicht nur praktische Kulturarbeit gemacht, sondern haben auch daraus die Informationen und Erfahrungen gezogen, die Sie jetzt in einem Buch verbreiten. Das heißt also "Verflüssigungen. Wege und Umwege vom Sozialstaat zur Kulturgesellschaft". Was hat Sie denn am Modell des deutschen Sozialstaates so gefuchst, dass Sie hier so eine Art Streitschrift und Gegenmodell vorlegen?

Goehler: Na ich habe ein Plädoyer gemacht für eine andere Betrachtung von Realität und die mit einbezieht, dass der Sozialstaat meines Erachtens in seiner jetzigen Form an sein klassisches Ende gekommen ist. Da hilft auch nicht, was Herr Beck am Montag behauptet hat, dass wir jetzt von einem "nachsorgenden" zu einem "vorsorgenden Sozialstaat" kommen wollen. Die Beobachtung aller Expertinnen und Experten sagen, der Sozialstaat implodiert, er wird einfach immer weniger - was einerseits mit der so genannten Demografie, die ja nun in aller Munde ist, zu tun hat, aber vor allen Dingen damit, dass das Gegenüber des Sozialstaates, nämlich die vollbeschäftigte Arbeitsgesellschaft, an ihr Ende gekommen ist.

Und die Politik weigert sich hartnäckig, diese Veränderung von Realitäten für sehr viele Menschen zur Kenntnis zu nehmen, beschwört weiterhin den Sozialstaat. Und alle Berechnungen werden immer ein bisschen komplizierter und die Bedarfsermittlung wird immer ein bisschen unwürdiger. Und demgegenüber favorisiere ich ein Modell, wo einfach unterschiedliche Formen des Lebens und Arbeitens mit hineinkommen. Es gibt eine große, wichtige Debatte um Grundeinkommen. Es gibt eine Debatte um andere Ökonomien als die der Erwerbstätigkeit. Die geht nachweislich weltweit zurück, vor allen Dingen aber in den Hochpreisländern, zu denen wir nun zweifellos gehören. Es werden jeden Tag einfach Tausende von Erwerbsarbeitsplätzen vernichtet. Demgegenüber gibt es zarte Pflanzen anderer Realitäten, wo sich das Arbeitsleben und das Privatleben völlig anders mischen. Ich habe mich bezogen auf mehrere Studien. Eine amerikanische von Richard Florida, der über "the rise of the creative class", also das Entstehen einer kreativen Klasse spricht, die nach seinen Ermittlungen zwischen 20 und 25 Prozent ausmacht. Dazu gehören natürlich Künstlerinnen und Wissenschaftlerinnen. Und ich kenne kaum jemanden in meinem Bekanntenkreis in diesem Alter und in diesem kulturellen Milieu, der oder die noch über einen sehr festen Job verfügt. Also das sind Realitäten, die vor allen Dingen in Berlin natürlich greifen - weshalb ich auch ein Plädoyer mache, dass Berlin, die Hauptstadt als ein Laboratorium für neue Arbeits- und Lebensverhältnisse sein müsste.

Von Billerbeck: "Verflüssigungen", dieser Titel Ihres Buches, das könnte man, wenn man böse wäre, ja auch als "Verwässerungen" lesen. Und ich höre schon die Stimmen, die da sagen: Na klar, erst seid Ihr nicht in der Lage, anständige Arbeit zu organisieren und jetzt hebt Ihr das auf den Schild, was sich zwangsweise aus dem Mangel heraus entwickelt hat und sagt, das ist das Modell. Und Sie liefern mit Ihrer Streitschrift sozusagen den Unterbau. Soll heißen: Wie stark ist in der Gesellschaft schon das Bewusstsein, dass man weg muss von dem Althergebrachten, hin zu gänzlich neuen Modellen von Arbeit, die es - wie Sie ja eben sagten - schon gibt?

Goehler: Also wie groß ist nun das Bewusstsein, das vermag ich auch nicht letztendlich zu sagen. Die deutsche Sprache kennt aber zum Glück eben den Unterschied zwischen Verwässerung und Verflüssigung. Ich mache die Analyse, dass viel Geld verloren geht dadurch, dass wir bornierte Ressortlogiken haben, dass es keine, keine übergreifenden - also in Berlin zum Beispiel keine senatsübergreifenden - Töpfe gibt, aus denen man Projekte generieren könnte. Und wenn Sie sich ein Feld angucken, wo es nun ganz, ganz dringend ist, dass die Künste und die Wissenschaften sich einmischen für eine veränderte Schule, dann ist es die Situation nach PISA, dann ist es die Situation, dass wir eigentlich mit allen Fragen von Migration überhaupt nicht wirklich vernünftig umgehen können.

Und da gibt es eben die Möglichkeit, dass Künstlerinnen, die in diesen prekären Verhältnissen leben, die ich keineswegs gut finde, ich konstatiere sie nun erst mal und es ist vielleicht der Unterschied. Das ist auch eine Streitschrift gegen Neoliberalismus und gegen Neokonservatismus. Ich gehe von dem Vermögen der Künstlerinnen und Wissenschaftlerinnen aus und versuche natürlich, so Mischungsverhältnisse zu denken, etwa dergestalt, dass Tänzerinnen, die jetzt wie in einem Beispiel an 30 Schulen, in 30 Klassen unterrichten, dass die zusammen etwa eine Planstelle bräuchten, die ...

Von Billerbeck: … eine Planstelle eines Lehrers?

Goehler: … eine ganz normale Planstelle als Lehrer bräuchten, um in 30 Klassen vernünftigen Tanzunterricht zu geben. Etwas, was all diesen Schülerinnen wahnsinnig gut bekommen ist. Es ist eine wahnsinnige Euphorie in diesen Klassen. Davon kann man eine ganze Menge lernen. Also ich suche nach neuen Mischverhältnissen. Ich denke aber auch, dass wir nicht drum herum kommen, Formen der Finanzierung zu denken, die sich jenseits von Schnüffelung an der Bettdecke, ja ...

Von Billerbeck: … wer lebt mit wem zusammen, darf man noch Hartz IV kriegen oder nicht?

Goehler: … genau, ob man Hartz-IV-berechtigt ist oder nicht, entwickeln müssen. Und da denke ich, sind die jungen Künstlerinnen und Wissenschaftlerinnen, die eben nicht in staatlichen, festen Anstellungen sind, die Richtigen, weil sie einen - so nenne ich das - Erfahrungs- und Leidensvorsprung haben.

Von Billerbeck: Im Radiofeuilleton sprechen wir mit Adrienne Goehler, der scheidenden Kuratorin des Hauptstadtkulturfonds und Autorin des Buches "Verflüssigungen". Wie lassen sich denn diese Strukturen oder diese Lebensmodelle von der Kulturszene auf die anderen Bereiche übertragen? Wie wird das konkret? Wie stellen Sie sich das vor? Und vor allen Dingen: Wie soll es möglich sein, diese verschiedenen Töpfe aus diesen verschiedenen Behörden irgendwie zusammenzubringen? Das klingt so ein bisschen wie die Quadratur des Kreises.

Goehler: Nö. Also ich denke, wenn - machen wir es mal ganz praktisch -, wenn jeder Etat eine Summe X abgeben würde für interdisziplinäre Projekte, für Projekte, die zum Beispiel Theaterleute mit Arbeitslosen, Theaterleute mit älteren Menschen, Tänzerinnen mit der Jugend machen, dann kann man natürlich Töpfe sich denken, die einerseits aus der Schule, andererseits aus der Kultur, andererseits aus dem Jugendressort kommen. Und ich glaube, wenn man das mal wirklich etwas verflüssigen würde, dass es dann auch Gelder von privaten Stiftungen dazugäbe, die ganz häufig sagen, sie machen es nicht, weil sie finden, die Staatsseite ...

Von Billerbeck: … weil es irgendwo versickert.

Goehler: Ja. Sie finden die Staatsseite so was von impertinent stur, dass sie sagen: Ne, machen wir dafür nicht. Aber da dann zu Kofinanzierungen zu kommen, wäre wunderbar. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: In den Sophiensælen hat eine Theatergruppe mit Hartz-IV-Empfängern gearbeitet und ihnen für einen Moment vielleicht die Würde zurückgegeben - und auch Strukturen wieder zurückgegeben. Sie wollten dafür Ein-Euro-Jobs haben von der Bundesagentur - für die kommt so eine Arbeit nicht vor, deswegen haben sie es abgelehnt. Man könnte sich aber sehr leicht vorstellen, dass diese Theatergruppe, die sich gebildet hat, dass die tourt durch die Bundesrepublik und sich über ein, zwei Jahre selber ernähren könnte. Das meine ich, sind so kleine ...

Von Billerbeck: … und vielleicht sogar noch neue Beispiele …

Goehler: … und natürlich etwas initiieren. Das ist doch klar, dass sehr viele Menschen etwas anderes in Angriff nehmen würden, und es ist doch eine, eine Binsenweisheit, dass wir alle noch über Fähigkeiten verfügen, die gar nicht abgerufen werden von dieser Gesellschaft. Nur es in die Ehrenamtlichkeit zu packen, statt Sozialstaat, das heißt wiederum, ganz, ganz viele Menschen auszuschließen. Weil das haben alle Studien ergeben: In Nichtregierungsorganisationen oder in sozialen Bewegungen organisiert sich nur, wer eine Arbeit hat. Also all diese Leute, die eben ...

Von Billerbeck: … man muss es sich leisten können, sozusagen?

Goehler: Ja, man muss es sich leisten können. Man muss ein Selbstbewusstsein aus einer Arbeit ziehen, um dann etwas weitergeben zu können. Das trifft nur für immer mehr Menschen nicht zu. Und das, was wir an Arbeitslosenzahlen haben, spiegelt ja die Realität nicht wider. Weil, ich zum Beispiel würde auch jetzt in keiner Arbeitslosenstatistik erscheinen, weil ich natürlich ...

Von Billerbeck: Stimmt, Sie haben heute Ihren letzten Arbeitstag.

Goehler: Ja, klar. Weil ich natürlich freiberuflich bin. So geht es den meisten Künstlerinnen und jungen Wissenschaftlerinnen, die sich von Praktikum zu Projekt zu Praktikum zu Post-Praktikum ernähren. So geht das nicht. Und ich glaube, dass wir da einfach als Gesellschaft unendlich viele Ressourcen verschleudern, die wir uns nicht leisten können.

Von Billerbeck: Letzte Frage an Sie: Es ist sicher nicht zufällig immer die weibliche Form, die Sie hier benutzen. Es sind vor allen Dingen Frauen, die in solchen Verhältnissen sind. Wann wird sich diese Art zu arbeiten und zu leben auch auf eine größere Zahl von Männern auswirken?

Goehler: Dass ich in der weiblichen Form spreche, das hat was - ich mache immer beide, ich habe immer beide Geschlechter drin, weil ich nicht der Meinung bin, dass wenn man "der Künstler" sagt, die Künstlerin automatisch da mit gedacht ist. Die prekären Arbeitsverhältnisse sind tatsächlich vor allen Dingen weibliche Arbeitsverhältnisse. Ich glaube aber auch, dass mit der Produktivität der Frauen eine Kulturgesellschaft sehr viel stärker zu organisieren ist. Weil all das, was sozusagen fehlt in unserer Arbeitswelt, ist etwas, was viel mit Kompetenzen von Frauen zu tun hat. Das kann sich ganz anders noch mal entfalten.

Von Billerbeck: Im Radiofeuilleton sprachen wir mit Adrienne Goehler, der scheidenden Kuratorin des Hauptstadtkulturfonds. Ihr Buch "Verflüssigungen. Wege und Umwege vom Sozialstaat zur Kulturgesellschaft" ist im Campus Verlag erschienen und wird heute Abend vorgestellt, ab 19:30 Uhr: In den Kunstwerken Berlin diskutiert Adrienne Goehler mit dem Publizisten Roger de Weck.