Gönningen? Da war doch was ...
Das Dorf Gönningen am Fuße der Schwäbischen Alb ist berühmt für den Samenhandel. Viele seiner Bewohner waren im 19. Jahrhundert in ganz Europa und einige sogar in Amerika unterwegs, um Blumen- und Gemüsesamen sowie Blumenzwiebeln zu verkaufen. Heute gibt es im Ort nur noch sechs Samenfachgeschäfte - aber viele Geschichten zu erzählen, wie sich ein ganz besonderes Volk unter den Schwaben aus einer als hoffnungslos erlebten wirtschaftlichen Lage befreite.
Schlafend liegen sie noch in ihren Fächern. Jedes Völkchen ordentlich sortiert. Runde, zackige, wohlgeformte und wilde ... Einige von ihnen duften so intensiv, dass sich schon erahnen lässt, was aus ihnen einmal werden könnte, wenn, ja wenn sie nur genügend Wasser und Licht bekommen.
Blumen und Gemüsesamen. Zur Zeit herrscht Hochsaison bei den Samenhändlern, denn in Kürze muss gesät werden, was bald blühen darf oder später geerntet werden soll. In diesen Tagen werden die letzten Pakete für die Gartensaison aus Gönningen in die Welt verschickt.
"Das ist ein ganz leichtes Saatgut, das kann man nicht mit Mäßchen abfüllen, sondern das wird mit der Hand abgefüllt ... Das sind jetzt Sonnenblumen, schwarzes Korn haben die. Das muss man so ein bisschen im Gefühl haben, was da rein kommt."
Wolfgang Ziegler hat es im Gefühl, er kommt aus einer Familie mit einer jahrhundert alten Tradition, wie viele Gönninger – fast alle eigentlich. Ziegler gehört zu den letzten Samenhändlern in Gönningen. Alte Schubladenregale, wie man sie sonst nur von alten Apotheken kennt, stehen in seiner Packstube. Eine Balkenwaage hängt von der Decke, auf einem großen alten Tisch stehen Pakete, deren Inhalt von zwei Mitarbeitern auf Vollständigkeit geprüft werden
Kleine Wundertüten. Wo auch immer sie aufgehen und als was - sie und die, die mit ihnen handeln und gehandelt haben, stehen für die Geschichte eines ganzes Dorfes.
Es ist eine leise Geschichte, die das Dorf am Fuße der Schwäbischen Alb zu erzählen hat. Heute - fast als Rückblick. Es ist eine lange Geschichte, die vor über 300 Jahren ihren Anfang genommen hat. Damals waren die Zeiten schlecht; hinter den Menschen lag der Dreißigjährige Krieg; und doch wurden in den darauffolgenden Jahren viele Kinder geboren. Die Erträge aus der heimischen Landwirtschaft reichten nicht mehr, um alle satt zu kriegen.
In Kirchenbüchern sind die Anfänge des Handels zu verfolgen, die alten Gönninger erzählen aus den ihnen überlieferten Erinnerungen:
"In Gönningen war schon immer eine große Gemeinde, die hatten damals 1500 oder 1600 Einwohner. Und die landwirtschaftliche Fläche, wo man seine Nahrung produzieren konnte, die war absolut zu klein, aber es gab viele viele Streuobstwiesen, die gibt es heute noch. Und auf diesen Streuobstwiesen und diesen Obstbäumen, da haben sie dann zunächst einmal Obst verkauft - in den Schwarzwald oder auf die Alb, wo es ja keine Obstbäume gab.
Und dann fing es an, das Obst zu dörren, dann gab es überall Darren, wo sie das Obst gedörrt haben, Pflaumen, Zwetschgen und Äpfelschnitze gemacht haben. Und dann ging es mit dem Schnitzhandel los. Und dann ging es ja schon weiter, die waren ja leichter, die konnte man ja besser produzieren und transportieren und vor allen Dingen auch über weitere Strecken und aufbewahren, das war ja das Problem."
Wolfgang Ziegler, der Schwager vom anderen Wolfgang Ziegler, erzählt alte Geschichten aus dem Dorf als sei er selbst dabei gewesen. Wie seine Familie, auch die seiner Frau, sind viele Gönninger Familien eng mit der 300-jährigen Geschichte des Samenhandels verbunden.
Der Mann mit den weißen Haaren und den wachen Augen erzählt von Pfarrer Wurster, der nicht nur Seelsorger, sondern auch Bienenvater und Blumist war. Jener Pfarrer Wurster muss es wohl gewesen sein, der wohl den Anstoß zum eigentlichen Samenhandel gab. Pfarrer Wurster gab seinen mit Dörrobst handelnden Nachbarn Nelkensamen und Nelkenpflanzen mit auf die Reisen.
"Und unterwegs haben sie dann auch gemerkt, wenn sie einen schönen Acker gesehen haben mit schönen Möhren oder mit schönen Zwiebeln, dann haben sie wahrscheinlich ihr Dörrobst eingetauscht gegen Saatgut. Und so ist wohl der Samenhandel entstanden."
Nach der Ernte im September brachen viele Gönninger auf. Über den Rücken
geworfen, trugen sie einen grünen Sack aus Leinen. Im Inneren dieses Zwerchsackes wiederum waren kleine Säckchen mit Samen aller Art verstaut.
Die Reisen gingen durch ganz Europa, nach Russland und nach Amerika. Anfänglich waren die Gönninger zu Fuß unterwegs, ohne Landkarte auf unwegsamen Wegen. Wo die Gönninger Samenhändler überall waren, ist heute in einem kleinen Museum im Gönninger Rathaus auf einer Weltkarte beschrieben:
"Hier, die Wolga, von Petersburg aus über die Waldei hin zum Ladogasee, hier, Kasan ist aufgeführt, das ist ja schon links von der Wolga. Das ist die Hauptstadt der Tartarei. Oder hier in Saratov, das war ja die Heimat der Wolgadeutschen. Vielleicht hatten manche da eine Verbindung durch die Katharina. Und dann Astrachan, auch da ist nachgewiesen, dass da Gönninger Samen verkauft wurde. Dann geht es hier runter: Kertsch auf der Krim ..."
Jeder Samenhändler hatte seinen eigenen Kundenkreis, seinen Samenstrich. Von Haus zu Haus zogen die Händler und boten ihre Ware an. Wie wohl sonst in keinem anderen Gewerbe zu finden, ist Handel mit Blumen- und Gemüsesamen von gegenseitigem Vertrauen geprägt. In selbstgemalten kleinen Katalogen zeigten sie ihren Kunden, was sie erwarten konnten:
"Beim Samen ist es ja so, wenn ich Nägel kaufe oder Balken oder Zement, dann sehe ich ja die Ware. Beim Samen muss ich mich verlassen können. Da muss ich wissen, wenn ich bei dem jetzt zehn Kilo Kohlsamen kaufe für meine soundsoviel Hektar Land, dann muss das rauskommen, was ich haben möchte. Und das war natürlich das A und O."
Über Generationen hinweg wurde der Kundenkreis vererbt. Gewachsenes Vertrauen. Auf den Feldern zu sehen und an der Blumenpracht abzulesen. Samenhändler waren gut beraten, den Samenstrich des anderen zu respektieren, erst auf der Heimreise von einer Hausierertour kamen die Gönninger Händler wieder aufeinander. Die aus Russland Heimkehrenden trafen sich häufig auf Schiffen, auch Ulmer Schachteln genannt:
"Die sind meisten, wenn sie da unten waren an der Wolga, Zarizin, später Stalingrad, jetzt Wolgograd, dann sind die rüber nach Odessa und sind dann von dort aus mit den Ulmer Schachteln, mit den Schiffen, nach Ulm gefahren. Und von Ulm nach Gönningen, das war ja dann kein Problem mehr."
Manche schlugen ihrer Ware gleich auch Wurzeln auf ihren Samenstrichen. In vielen Ländern, vor allem in der Schweiz, gibt es bis heute Niederlassungen, deren Gründer aus Gönningen stammen.
Jeder der sich damals auf eine Handelsreise begeben wollte, brauchte einen Pass. Dieser wurde lediglich für ein Jahr ausgestellt. Liefen keine Klagen über den Besitzer ein, wurde das Dokument wieder verlängert. Um 1850 besaßen 1200 Gönninger diesen Reisepass, davon 400 Frauen. Eine frühe Form der weiblichen Emanzipation:
"Die Welt war einfach größer für diese Frauen, und es war natürlich ein viel stärkere Eigenständigkeit da. Das hatte natürlich nicht die Konsequenzen gehabt, die es vielleicht heute hätte, dass sich Frauen zum Beispiel sichtbarer in gesellschaftliche Leben einbringen, das war damals einfach durch die Gesetzeslage nicht möglich. Von daher ist es schlecht abzuschätzen. Aber ich denke, dass es für das Dorfklima sicherlich sehr entscheidend war."
Dieser Zugewinn an weiblicher Freiheit hat wohl auch dazu beigetragen, dass noch bis heute, Jahrhunderte später, die Gönninger als ein besonderer Menschenschlag gelten. Pfarrer Alexander Behrend fällt das bei vielen Hausbesuchen auf. In den Familien der Samenhändler werde auf eine bestimmte Weise kommuniziert, erkennt der Pfarrer. Besonders auffällig sei, dass viele die Kunst des Zuhörens besäßen.
"Ich glaube sicher, dass das sicherlich mit dem Samenhandel zu tun hat, weil das einfach genuiner Bestandteil der Berufstätigkeit war. Und damit hängt natürlich auch zusammen: Es ist bei den Samenhändler in der Regel ein durchaus ausgebautes und spürbares Selbstbewusstsein da, aber auf eine Art eben, die einem den Kontakt auch erleichtert. Weil jemand, der um seiner selbst weiß, mit dem zu kommunizieren ist in aller Regel einfacher."
Sie waren polierter, also geschickter, sagte man schon früher über die Gönninger. Wohl sonst nirgendwo in der Region war ablesbar, wie Reisen bildet.
"Also das wurde damals schon bescheinigt, und ich glaube eine Spur von damals gibt es heute immer noch. Also sie sind zum Beispiel dem Pfarrer und dem Bürgermeister gegenüber immer relativ selbstbewusst und offen","
sagt Gönningens Bezirksbürgermeister Prof. Dr. Paul Ackermann. Das Selbstbewusstsein kommt nicht von ungefähr. Während in Nachbardörfern die Bauern tagein tagaus hinter ihren Pferden auf den Feldern herliefen, kamen die Gönninger Samenhändler in der Welt herum. Tafeln, die Wolfgang Ziegler und ein Freund an Gönninger Häuser anbringen ließen, erinnern an ihre früheren Besitzer:
"Das Haus gehörte um 1820 der Samenhandelsfamilie Reiber. Andreas Reiber unternahm 28 Reisen nach Amerika. Bei seiner Reisen letzten Reise wurde er überfallen und schwer verletzt. Der Häuptlingssohn Wawonda hat dem Verwundeten geholfen und ihn gepflegt. Andreas Reiber starb 1881 in Pittsburgh."
Ja, bis nach Amerika kamen einige Gönninger. Dort handelten sie nicht nur mit Gemüse und Blumensamen, sondern auch mit Blumenzwiebeln.
Wolfgang Ziegler: ""Die haben dann den Neureichen am Mississippi Hyazinthen gebracht, und natürlich auch wertvolle Sämereien. Und die sind im August nach Holland gefahren und haben ihre Blumenzwiebeln einkauft, dann haben sie es verladen. Einer schreibt, dann ging es von Amsterdam nach Liverpool. Und von Liverpool haben sie noch einen kurzen Halt gemacht in Irland, und dann sind sie rüber nach New York. Und dann sind sie bis nach Memphis gefahren.
Und das war dann eben da drüben in Amerika genau bei den Siedlern, die dann Geld hatten. Genau das gleiche wie bei den Fürsten in Russland: Wenn einer einen schönen Garten gehabt hat - mit wunderschönen Blumen, ja dann wollte es ja der andere auch haben. Dann hat der gesagt: Menschenskind, wo hast du die her?
Oder wenn sie Partys gefeiert haben, und sie hatten so wunderbar duftende Hyazinthen. Stellen Sie sich mal vor wie stark Hyazinthen duften … Und vor 200 Jahren, was gab es denn da für Düfte in den Häusern, ganz andere."
Bis heute erinnern stattliche, für ein früheres Bauerndorf ungewöhnlich große Häuser an die wirtschaftliche Blüte des Dorfes und an den bisweilen erlangten Reichtum.
Doch die Gönninger waren keine Abenteurer. In wirtschaftlich ausweglos erscheinenden Zeiten waren sie gezwungen, die Heimat zu verlassen. Viele von ihnen kamen nicht mehr nach Hause. Sie starben unterwegs, nicht wenige wählten aus Verzweiflung den Freitod, andere wurden umgebracht oder starben an Krankheiten. An sie erinnert ein Denkmal in der Gönninger Kirche.
Alexander Behrend: "Ja dieses reliefartige Denkmal - das in der Mitte so einen ganz dominierenden Christus hat, der Gekreuzigte, aber auch schon der Auferstandene, in seiner segnenden Haltung, einerseits den ausziehenden Samenhändler und vor allem auch eine ausziehende Samenhändlerin, wenn auch etwas verdeckt im Hintergrund - zeigt durchaus sehr typisch für den Berufsstand die Hinausziehenden in die Welt. Und auf dem rechten Relief dann dargestellt ist die Rückkehr, die in diesem Fall die Heimkehr in die himmlische Heimat darstellt."
Wolfgang Ziegler: "Die sind im September gegangen und manche zu Weihnachten gekommen. Und wer weit weg war, ist zu Weihnachten gar nicht heimgekommen. Und dann Januar, Februar, März - da sind natürlich sehr viele schlecht ernährt gewesen und an der Kälte und an Lungenentzündung, viele sind an Krankheiten gestorben."
Doch die, die es geschafft haben und zurückgekommen waren, hatten viel zu berichten. Nirgendwo sonst in der Gegend gab es so viele Schankwirtschaften - über zwei Dutzend waren es. In den Büchern steht, es sei bisweilen drunter und drüber gegangen. Pfarrer Behrend:
"Etwa zwei Dutzend bei 2000 Einwohnern - was damals vielleicht doch eine gigantisch hohe Quote war. Den Samenhändlern, wenn sie zurückkamen, ging das Herz über, also nicht nur von frommen Dingen, sondern natürlich auch von den ganz weltlichen, die sie unterwegs erfahren haben. Und die galt es einfach auszutauschen. Und dann kam es sicherlich auch dazu, dass der eine oder andere etwas zuviel intus hatte, dass sich die Zunge löste."
Ein feuchtfröhlicher und fruchtbarer Austausch. Die Gönninger hatten sich etwas zu erzählen von ihren weiten Reisen. Ihr Wissen war weit über die eigenen Dorfgrenzen hinaus bekannt. Immer wieder waren sie als Ratgeber und Boten gefragt. Als im April 1902 Gönningen an das Bahnnetz angeschlossen wurde, sagte ein namhafter Politiker:
"Mit diesem Zug muss man Gönningen nicht an die Welt anschließen, man hat mit diesem Zug die Welt an Gönningen angeschlossen."
Zuvor hatten die Gönninger bereits in einer einmaligen Aktion bewiesen, wie weltgewandt sie tatsächlich sein konnten. Immer wieder gab es Bestrebungen, den Hausierhandel ganz zu verbieten. Nachdem eine Petition der Gönninger Samenhändler zunächst unerhört blieb, reisten vier Samenhändler nach Berlin und trugen ihr Anliegen direkt im Reichstag vor. Bezirksbürgermeister Ackermann:
"Die Gönninger haben damals, als der Hausierhandel auch mit Gemüse- und Blumensamen verboten werden sollte, sehr professionell reagiert, praktisch wie heute eine moderne Interessengruppe. Sie haben einmal eine Petition an den Reichstag geschickt. Und was damals sehr wichtig war, dieser Petition haben sie Unterschriftenlisten hinzugefügt von Kunden, die gewissermaßen, so hieß es damals, die Bonität, die Güte der Waren bescheinigt haben.
Ich meine, bei den Samenhändlern ist die Kontrolle der Ware ja relativ leicht: Wenn im Frühjahr nichts kommt, war die Ware nichts. Und das war sehr wichtig, und dann haben die auch eine Delegation nach Berlin geschickt, die also gewissermaßen in der Lobby des Reichstages waren.
Und sie haben dann durchgesetzt, dass in der Reichsgewerbeordnung zwar der Hausierhandel verboten wurde, aber mit Ausnahme des Handels mit Gemüse und Blumensamen. Und das nennt man Lex, also Gesetz, Spezialgesetz für Gönningen. Und das ist ja schon einzigartig, dass ein kleines Dorf sich so durchsetzen kann."
Von rund 2000 Dorfbewohnern waren zeitweise ein Drittel im Samenhandel beschäftigt. Nach und nach wich der Versandhandel dem Hausierhandel. Heute verdienen nur noch wenige Gönninger Familien ihr Geld mit dem Samenhandel.
Auch der Samenhändler Wolfgang Ziegler ist seit einigen Jahren im Ruhestand. Er war ein erfolgreicher Händler. Jahrzehntelang hat er sich aber um den ganzen Samenhandel in Gönningen gekümmert. Läuft man mit ihm durch den mittlerweile zu Reutlingen gehörenden Ortsteil Gönningen, erzählt er über das Ende der Blütezeit:
"Und hier in diesem Lokal, in das wir jetzt zugehen, das war unsere Einkaufsgenossenschaft, die wurde 1925 gegründet. Und letztes Jahr, 2008, habe ich sie liquidiert, weil wir sie nicht mehr gebraucht haben."
Einmal im Jahr erzählt das Dorf wortlos von seiner blühenden Vergangenheit. Einmal im Jahr, im Frühjahr, verwandelt sich der Gönninger Friedhof in ein blühendes Meer. Keine Friedhofsblumen, nein Tulpen, wie sie die Welt nie schöner gesehen hat. Besondere halt, wie die, die unter ihnen schlafen.
Blumen und Gemüsesamen. Zur Zeit herrscht Hochsaison bei den Samenhändlern, denn in Kürze muss gesät werden, was bald blühen darf oder später geerntet werden soll. In diesen Tagen werden die letzten Pakete für die Gartensaison aus Gönningen in die Welt verschickt.
"Das ist ein ganz leichtes Saatgut, das kann man nicht mit Mäßchen abfüllen, sondern das wird mit der Hand abgefüllt ... Das sind jetzt Sonnenblumen, schwarzes Korn haben die. Das muss man so ein bisschen im Gefühl haben, was da rein kommt."
Wolfgang Ziegler hat es im Gefühl, er kommt aus einer Familie mit einer jahrhundert alten Tradition, wie viele Gönninger – fast alle eigentlich. Ziegler gehört zu den letzten Samenhändlern in Gönningen. Alte Schubladenregale, wie man sie sonst nur von alten Apotheken kennt, stehen in seiner Packstube. Eine Balkenwaage hängt von der Decke, auf einem großen alten Tisch stehen Pakete, deren Inhalt von zwei Mitarbeitern auf Vollständigkeit geprüft werden
Kleine Wundertüten. Wo auch immer sie aufgehen und als was - sie und die, die mit ihnen handeln und gehandelt haben, stehen für die Geschichte eines ganzes Dorfes.
Es ist eine leise Geschichte, die das Dorf am Fuße der Schwäbischen Alb zu erzählen hat. Heute - fast als Rückblick. Es ist eine lange Geschichte, die vor über 300 Jahren ihren Anfang genommen hat. Damals waren die Zeiten schlecht; hinter den Menschen lag der Dreißigjährige Krieg; und doch wurden in den darauffolgenden Jahren viele Kinder geboren. Die Erträge aus der heimischen Landwirtschaft reichten nicht mehr, um alle satt zu kriegen.
In Kirchenbüchern sind die Anfänge des Handels zu verfolgen, die alten Gönninger erzählen aus den ihnen überlieferten Erinnerungen:
"In Gönningen war schon immer eine große Gemeinde, die hatten damals 1500 oder 1600 Einwohner. Und die landwirtschaftliche Fläche, wo man seine Nahrung produzieren konnte, die war absolut zu klein, aber es gab viele viele Streuobstwiesen, die gibt es heute noch. Und auf diesen Streuobstwiesen und diesen Obstbäumen, da haben sie dann zunächst einmal Obst verkauft - in den Schwarzwald oder auf die Alb, wo es ja keine Obstbäume gab.
Und dann fing es an, das Obst zu dörren, dann gab es überall Darren, wo sie das Obst gedörrt haben, Pflaumen, Zwetschgen und Äpfelschnitze gemacht haben. Und dann ging es mit dem Schnitzhandel los. Und dann ging es ja schon weiter, die waren ja leichter, die konnte man ja besser produzieren und transportieren und vor allen Dingen auch über weitere Strecken und aufbewahren, das war ja das Problem."
Wolfgang Ziegler, der Schwager vom anderen Wolfgang Ziegler, erzählt alte Geschichten aus dem Dorf als sei er selbst dabei gewesen. Wie seine Familie, auch die seiner Frau, sind viele Gönninger Familien eng mit der 300-jährigen Geschichte des Samenhandels verbunden.
Der Mann mit den weißen Haaren und den wachen Augen erzählt von Pfarrer Wurster, der nicht nur Seelsorger, sondern auch Bienenvater und Blumist war. Jener Pfarrer Wurster muss es wohl gewesen sein, der wohl den Anstoß zum eigentlichen Samenhandel gab. Pfarrer Wurster gab seinen mit Dörrobst handelnden Nachbarn Nelkensamen und Nelkenpflanzen mit auf die Reisen.
"Und unterwegs haben sie dann auch gemerkt, wenn sie einen schönen Acker gesehen haben mit schönen Möhren oder mit schönen Zwiebeln, dann haben sie wahrscheinlich ihr Dörrobst eingetauscht gegen Saatgut. Und so ist wohl der Samenhandel entstanden."
Nach der Ernte im September brachen viele Gönninger auf. Über den Rücken
geworfen, trugen sie einen grünen Sack aus Leinen. Im Inneren dieses Zwerchsackes wiederum waren kleine Säckchen mit Samen aller Art verstaut.
Die Reisen gingen durch ganz Europa, nach Russland und nach Amerika. Anfänglich waren die Gönninger zu Fuß unterwegs, ohne Landkarte auf unwegsamen Wegen. Wo die Gönninger Samenhändler überall waren, ist heute in einem kleinen Museum im Gönninger Rathaus auf einer Weltkarte beschrieben:
"Hier, die Wolga, von Petersburg aus über die Waldei hin zum Ladogasee, hier, Kasan ist aufgeführt, das ist ja schon links von der Wolga. Das ist die Hauptstadt der Tartarei. Oder hier in Saratov, das war ja die Heimat der Wolgadeutschen. Vielleicht hatten manche da eine Verbindung durch die Katharina. Und dann Astrachan, auch da ist nachgewiesen, dass da Gönninger Samen verkauft wurde. Dann geht es hier runter: Kertsch auf der Krim ..."
Jeder Samenhändler hatte seinen eigenen Kundenkreis, seinen Samenstrich. Von Haus zu Haus zogen die Händler und boten ihre Ware an. Wie wohl sonst in keinem anderen Gewerbe zu finden, ist Handel mit Blumen- und Gemüsesamen von gegenseitigem Vertrauen geprägt. In selbstgemalten kleinen Katalogen zeigten sie ihren Kunden, was sie erwarten konnten:
"Beim Samen ist es ja so, wenn ich Nägel kaufe oder Balken oder Zement, dann sehe ich ja die Ware. Beim Samen muss ich mich verlassen können. Da muss ich wissen, wenn ich bei dem jetzt zehn Kilo Kohlsamen kaufe für meine soundsoviel Hektar Land, dann muss das rauskommen, was ich haben möchte. Und das war natürlich das A und O."
Über Generationen hinweg wurde der Kundenkreis vererbt. Gewachsenes Vertrauen. Auf den Feldern zu sehen und an der Blumenpracht abzulesen. Samenhändler waren gut beraten, den Samenstrich des anderen zu respektieren, erst auf der Heimreise von einer Hausierertour kamen die Gönninger Händler wieder aufeinander. Die aus Russland Heimkehrenden trafen sich häufig auf Schiffen, auch Ulmer Schachteln genannt:
"Die sind meisten, wenn sie da unten waren an der Wolga, Zarizin, später Stalingrad, jetzt Wolgograd, dann sind die rüber nach Odessa und sind dann von dort aus mit den Ulmer Schachteln, mit den Schiffen, nach Ulm gefahren. Und von Ulm nach Gönningen, das war ja dann kein Problem mehr."
Manche schlugen ihrer Ware gleich auch Wurzeln auf ihren Samenstrichen. In vielen Ländern, vor allem in der Schweiz, gibt es bis heute Niederlassungen, deren Gründer aus Gönningen stammen.
Jeder der sich damals auf eine Handelsreise begeben wollte, brauchte einen Pass. Dieser wurde lediglich für ein Jahr ausgestellt. Liefen keine Klagen über den Besitzer ein, wurde das Dokument wieder verlängert. Um 1850 besaßen 1200 Gönninger diesen Reisepass, davon 400 Frauen. Eine frühe Form der weiblichen Emanzipation:
"Die Welt war einfach größer für diese Frauen, und es war natürlich ein viel stärkere Eigenständigkeit da. Das hatte natürlich nicht die Konsequenzen gehabt, die es vielleicht heute hätte, dass sich Frauen zum Beispiel sichtbarer in gesellschaftliche Leben einbringen, das war damals einfach durch die Gesetzeslage nicht möglich. Von daher ist es schlecht abzuschätzen. Aber ich denke, dass es für das Dorfklima sicherlich sehr entscheidend war."
Dieser Zugewinn an weiblicher Freiheit hat wohl auch dazu beigetragen, dass noch bis heute, Jahrhunderte später, die Gönninger als ein besonderer Menschenschlag gelten. Pfarrer Alexander Behrend fällt das bei vielen Hausbesuchen auf. In den Familien der Samenhändler werde auf eine bestimmte Weise kommuniziert, erkennt der Pfarrer. Besonders auffällig sei, dass viele die Kunst des Zuhörens besäßen.
"Ich glaube sicher, dass das sicherlich mit dem Samenhandel zu tun hat, weil das einfach genuiner Bestandteil der Berufstätigkeit war. Und damit hängt natürlich auch zusammen: Es ist bei den Samenhändler in der Regel ein durchaus ausgebautes und spürbares Selbstbewusstsein da, aber auf eine Art eben, die einem den Kontakt auch erleichtert. Weil jemand, der um seiner selbst weiß, mit dem zu kommunizieren ist in aller Regel einfacher."
Sie waren polierter, also geschickter, sagte man schon früher über die Gönninger. Wohl sonst nirgendwo in der Region war ablesbar, wie Reisen bildet.
"Also das wurde damals schon bescheinigt, und ich glaube eine Spur von damals gibt es heute immer noch. Also sie sind zum Beispiel dem Pfarrer und dem Bürgermeister gegenüber immer relativ selbstbewusst und offen","
sagt Gönningens Bezirksbürgermeister Prof. Dr. Paul Ackermann. Das Selbstbewusstsein kommt nicht von ungefähr. Während in Nachbardörfern die Bauern tagein tagaus hinter ihren Pferden auf den Feldern herliefen, kamen die Gönninger Samenhändler in der Welt herum. Tafeln, die Wolfgang Ziegler und ein Freund an Gönninger Häuser anbringen ließen, erinnern an ihre früheren Besitzer:
"Das Haus gehörte um 1820 der Samenhandelsfamilie Reiber. Andreas Reiber unternahm 28 Reisen nach Amerika. Bei seiner Reisen letzten Reise wurde er überfallen und schwer verletzt. Der Häuptlingssohn Wawonda hat dem Verwundeten geholfen und ihn gepflegt. Andreas Reiber starb 1881 in Pittsburgh."
Ja, bis nach Amerika kamen einige Gönninger. Dort handelten sie nicht nur mit Gemüse und Blumensamen, sondern auch mit Blumenzwiebeln.
Wolfgang Ziegler: ""Die haben dann den Neureichen am Mississippi Hyazinthen gebracht, und natürlich auch wertvolle Sämereien. Und die sind im August nach Holland gefahren und haben ihre Blumenzwiebeln einkauft, dann haben sie es verladen. Einer schreibt, dann ging es von Amsterdam nach Liverpool. Und von Liverpool haben sie noch einen kurzen Halt gemacht in Irland, und dann sind sie rüber nach New York. Und dann sind sie bis nach Memphis gefahren.
Und das war dann eben da drüben in Amerika genau bei den Siedlern, die dann Geld hatten. Genau das gleiche wie bei den Fürsten in Russland: Wenn einer einen schönen Garten gehabt hat - mit wunderschönen Blumen, ja dann wollte es ja der andere auch haben. Dann hat der gesagt: Menschenskind, wo hast du die her?
Oder wenn sie Partys gefeiert haben, und sie hatten so wunderbar duftende Hyazinthen. Stellen Sie sich mal vor wie stark Hyazinthen duften … Und vor 200 Jahren, was gab es denn da für Düfte in den Häusern, ganz andere."
Bis heute erinnern stattliche, für ein früheres Bauerndorf ungewöhnlich große Häuser an die wirtschaftliche Blüte des Dorfes und an den bisweilen erlangten Reichtum.
Doch die Gönninger waren keine Abenteurer. In wirtschaftlich ausweglos erscheinenden Zeiten waren sie gezwungen, die Heimat zu verlassen. Viele von ihnen kamen nicht mehr nach Hause. Sie starben unterwegs, nicht wenige wählten aus Verzweiflung den Freitod, andere wurden umgebracht oder starben an Krankheiten. An sie erinnert ein Denkmal in der Gönninger Kirche.
Alexander Behrend: "Ja dieses reliefartige Denkmal - das in der Mitte so einen ganz dominierenden Christus hat, der Gekreuzigte, aber auch schon der Auferstandene, in seiner segnenden Haltung, einerseits den ausziehenden Samenhändler und vor allem auch eine ausziehende Samenhändlerin, wenn auch etwas verdeckt im Hintergrund - zeigt durchaus sehr typisch für den Berufsstand die Hinausziehenden in die Welt. Und auf dem rechten Relief dann dargestellt ist die Rückkehr, die in diesem Fall die Heimkehr in die himmlische Heimat darstellt."
Wolfgang Ziegler: "Die sind im September gegangen und manche zu Weihnachten gekommen. Und wer weit weg war, ist zu Weihnachten gar nicht heimgekommen. Und dann Januar, Februar, März - da sind natürlich sehr viele schlecht ernährt gewesen und an der Kälte und an Lungenentzündung, viele sind an Krankheiten gestorben."
Doch die, die es geschafft haben und zurückgekommen waren, hatten viel zu berichten. Nirgendwo sonst in der Gegend gab es so viele Schankwirtschaften - über zwei Dutzend waren es. In den Büchern steht, es sei bisweilen drunter und drüber gegangen. Pfarrer Behrend:
"Etwa zwei Dutzend bei 2000 Einwohnern - was damals vielleicht doch eine gigantisch hohe Quote war. Den Samenhändlern, wenn sie zurückkamen, ging das Herz über, also nicht nur von frommen Dingen, sondern natürlich auch von den ganz weltlichen, die sie unterwegs erfahren haben. Und die galt es einfach auszutauschen. Und dann kam es sicherlich auch dazu, dass der eine oder andere etwas zuviel intus hatte, dass sich die Zunge löste."
Ein feuchtfröhlicher und fruchtbarer Austausch. Die Gönninger hatten sich etwas zu erzählen von ihren weiten Reisen. Ihr Wissen war weit über die eigenen Dorfgrenzen hinaus bekannt. Immer wieder waren sie als Ratgeber und Boten gefragt. Als im April 1902 Gönningen an das Bahnnetz angeschlossen wurde, sagte ein namhafter Politiker:
"Mit diesem Zug muss man Gönningen nicht an die Welt anschließen, man hat mit diesem Zug die Welt an Gönningen angeschlossen."
Zuvor hatten die Gönninger bereits in einer einmaligen Aktion bewiesen, wie weltgewandt sie tatsächlich sein konnten. Immer wieder gab es Bestrebungen, den Hausierhandel ganz zu verbieten. Nachdem eine Petition der Gönninger Samenhändler zunächst unerhört blieb, reisten vier Samenhändler nach Berlin und trugen ihr Anliegen direkt im Reichstag vor. Bezirksbürgermeister Ackermann:
"Die Gönninger haben damals, als der Hausierhandel auch mit Gemüse- und Blumensamen verboten werden sollte, sehr professionell reagiert, praktisch wie heute eine moderne Interessengruppe. Sie haben einmal eine Petition an den Reichstag geschickt. Und was damals sehr wichtig war, dieser Petition haben sie Unterschriftenlisten hinzugefügt von Kunden, die gewissermaßen, so hieß es damals, die Bonität, die Güte der Waren bescheinigt haben.
Ich meine, bei den Samenhändlern ist die Kontrolle der Ware ja relativ leicht: Wenn im Frühjahr nichts kommt, war die Ware nichts. Und das war sehr wichtig, und dann haben die auch eine Delegation nach Berlin geschickt, die also gewissermaßen in der Lobby des Reichstages waren.
Und sie haben dann durchgesetzt, dass in der Reichsgewerbeordnung zwar der Hausierhandel verboten wurde, aber mit Ausnahme des Handels mit Gemüse und Blumensamen. Und das nennt man Lex, also Gesetz, Spezialgesetz für Gönningen. Und das ist ja schon einzigartig, dass ein kleines Dorf sich so durchsetzen kann."
Von rund 2000 Dorfbewohnern waren zeitweise ein Drittel im Samenhandel beschäftigt. Nach und nach wich der Versandhandel dem Hausierhandel. Heute verdienen nur noch wenige Gönninger Familien ihr Geld mit dem Samenhandel.
Auch der Samenhändler Wolfgang Ziegler ist seit einigen Jahren im Ruhestand. Er war ein erfolgreicher Händler. Jahrzehntelang hat er sich aber um den ganzen Samenhandel in Gönningen gekümmert. Läuft man mit ihm durch den mittlerweile zu Reutlingen gehörenden Ortsteil Gönningen, erzählt er über das Ende der Blütezeit:
"Und hier in diesem Lokal, in das wir jetzt zugehen, das war unsere Einkaufsgenossenschaft, die wurde 1925 gegründet. Und letztes Jahr, 2008, habe ich sie liquidiert, weil wir sie nicht mehr gebraucht haben."
Einmal im Jahr erzählt das Dorf wortlos von seiner blühenden Vergangenheit. Einmal im Jahr, im Frühjahr, verwandelt sich der Gönninger Friedhof in ein blühendes Meer. Keine Friedhofsblumen, nein Tulpen, wie sie die Welt nie schöner gesehen hat. Besondere halt, wie die, die unter ihnen schlafen.