Mit dem Rücken zur Wand
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Nun wisse er, was es bedeute, in der östlichsten Stadt Deutschlands zu leben und Richtung Westeuropa zu blicken, sagt der Schriftsteller Lukas Rietzschel. Er schildert seine Erfahrung mit der Grenzschließung nach Polen.
In der zweiten Phase der Coronakrise wird jetzt schrittweise vieles wieder geöffnet: die Geschäfte, Schule und sogar die Gaststätten. Geschlossen bleibt dagegen die deutsche Grenze nach Polen, wie vor allem die Bewohner der Stadt Görlitz schmerzlich erleben. Allein einige Berufspendler können wieder über die Grenze.
Grenzerfahrung in Görlitz
"Für mich war das etwas sehr surreales", sagt der Schriftsteller Lukas Rietzschel, Jahrgang 1994, der in Görlitz lebt. Er kenne eigentlich keine geschlossenen Grenzen und könne sich daran nicht bewusst erinnern. "Für mich ist das sehr schockierend, ich fühle mich mit einem Mal sehr an den Rand gedrängt."
Er wisse jetzt, was es bedeute, in der östlichsten Stadt Deutschlands zu leben. "Es sieht so aus, als würde man mit dem Rücken zur Wand stehen und in Richtung Westeuropa schauen." Es sei erstaunlich, wie schnell so etwas verordnet und durchgesetzt werden könne. Er hätte gerne auf die Erfahrung verzichtet, dass es so etwas wie Grenzen immer noch geben könne - denn im Kopf seien viele Menschen eigentlich weiter.
Die Grenze nach Polen erscheine immer noch sehr fragil. Erst 13 Jahre ist es her, dass der freie Übergang möglich wurde. Aber die Stadtgesellschaft habe sich längst an die offene Grenze gewöhnt, berichtet der Autor. "Auf einmal, und das war auch sehr surreal, standen auf dieser Grenze Bauzäune, die gleichen, mit denen auch Spielplätze abgeriegelt werden. Das war dann die neue Grenzbefestigung, an der durfte niemand vorbei", sagt Rietzschel über die Erfahrung während der Coronapandemie.
Es seien dann noch kleine Zelte aufgestellt worden, um alle zu kontrollieren. Dadurch hätten sich auch die riesigen Staus entwickelt. "Diese 60 Kilometer auf der Autobahn und die wurden irgendwann umgeleitet auch durch die Stadt." Nun schaue man als Görlitzer auf die beiden Brücken über die Neiße und wisse nicht mehr, wofür sie noch da seien. "Warum durchbricht man sie nicht einfach? Das ist ja keine Befestigung."
Die Polen fehlen in Görlitz
Früher sei es anfangs so gewesen, dass die Görlitzer auf der polnischen Seite vor allem billiges Benzin und Zigaretten gekauft hätten. Auch in der Coronakrise habe es zu Beginn noch Hamsterkäufe in Polen gegeben. Aber in der Stadt merke man inzwischen, dass viele Polen fehlten, weil sie entschieden hätten, in der Heimat zu sein.
Da spüre man jetzt, wie viele es doch seien und wie ruhig es jetzt auf den Straßen in Görlitz geworden sei. "Das zeigt zum einen, wie assimiliert die Polen sind, dass sie kaum auffallen", sagt Rietzschel. Aber Görlitz habe eben einen Anteil von fast zehn Prozent Menschen mit polnischer Herkunft. "Jetzt zeigt sich, wie verflochten das dann doch ist und wie diese Wirtschaften voneinander abhängen." Es fehlten die polnischen Ärzte, Kindergärtnerinnen und Lehrer.
Er selbst sei es auch gewohnt gewesen, einmal die Woche zum Fußballspielen über die Grenze zu fahren. "Wir treffen uns da mit polnischen Jugendlichen und spielen auf den viel besseren Fußballplätzen." Aber es gehe dabei auch darum, Freunde zu treffen, essen zu gehen oder um Spaziergänge.
"Das ist ja das Tolle, dass man eben keinen Grund braucht, um über die Brücke zu gehen und in einem anderen Land ist, sondern dass man auch einfach hin- und herschlendern kann", so der Schriftsteller. "Das ist das, was diese Europastadt Görlitz mal ausgemacht hat. Ich hoffe, dass wir schnell wieder dahin kommen, dass es das wieder ausmachen kann." Es gebe eine kleine Gruppe von Demonstranten, die mit der Europafahne an die Grenze ziehe und diese Gruppe werde immer größer.
(gem)