Über die alten Grenzen hinweg
Für 2010 bewarben sich Görlitz und Zgorzelec gemeinsam als Kulturhauptstadt Europas. Die Bewerbung scheiterte, nicht aber der gemeinsame Alltag. Unser Landeskorrespondent Bastian Brandau hat sich in der deutsch-polnischen Grenzstadt umgeschaut und umgehört.
Die Straßenbahnlinien 2 und 3 bilden das Herz des Görlitzer Nahverkehrs. Man sollte sich gut festhalten, die Fahrt in Wagen, noch aus tschechoslowakischer Produktion, verläuft bisweilen ruckelig. Die Fahrzeuge der Marke Tatra versehen seit über 30 Jahren treu ihren Dienst. Zwei Linien durchqueren die historische Altstadt mit ihren inzwischen fast ausnahmslos sanierten Altbauten. Die haben aus Görlitz eine beliebte Filmkulisse gemacht. Vorbei an Bekleidungsgeschäften und Dönerbuden geht es vom Bahnhof in gemächlicher Fahrt zum zentralen Umsteigepunkt.
Beim Gang durch die Görlitzer Innenstadt sind praktisch immer zwei Sprachen zu hören. Neben Deutsch hört man immer mehr auch polnisch. Zum Beispiel, wenn Anna Exner mit ihrem Sohn spricht.
"Also ich wohne schon hier 15 Jahre und mir gefällt es. Ich bin schon eingewöhnt. Ich bin zufrieden, kann man sagen."
Und Sie sind aber ab und zu auch mal in Zgorzelec?
"Natürlich! Aber nur zum Einkaufen. Da zum Basar zu gehen. Zigaretten kaufen. Einmal pro Woche fahren wir zusammen."
Vor 15 Jahren kam sie nach Görlitz, um eine Freundin zu besuchen. Sie fand Arbeit, ist inzwischen mit einem Deutschen verheiratet. Ihr dreijähriger Sohn hat, wie immer mehr Kinder hier, das Glück, zweisprachig aufzuwachsen.
Vom zentralen Demianiplatz sind es nur einige hundert Meter zum historischen Warenhaus. Das aus dem Film "Grand Budapest Hotel" bekannte Jugendstil-Gebäude steht derzeit leer, die Zukunft ist offen. Leerstand, sowohl in gewerblichen als auch in Privatimmobilien, ist immer noch ein Problem in Görlitz.
Reger Betrieb dagegen hinter dem Warenhaus. Ein Discounter, Schuhladen, mehrere Imbisse: Das Einkaufszentrum City Center ist ein beliebter Treffpunkt in der Innenstadt. In einer Bäckerei sitzen vier Damen der deutsch-polnischen Vereinigung Club Interfemina, zwei Polinnen und zwei Deutsche.
Christine Marakanow hat als Journalistin gearbeitet. Zu Interclub Femina sei sie auch gegangen, um polnisch zu lernen:
"Aber das muss ich zu Hause machen. Dafür ist zu wenig Zeit. Wir treffen uns immer zwei Stunden. Und wir unternehmen aber gemeinsam was, um was kennenzulernen, was gibt’s Neues in Zgorzelec, was gibt es Neues bei uns?"
Irgendwer kann immer übersetzen
Ganz wichtig aber auch: Einfach Kaffee trinken und plaudern, über die alten Grenzen hinweg. Der Austausch scheint hier etwas alltägliches sein, obwohl die wenigsten beide Sprachen beherrschen. Irgendwer kann übersetzen, oder man versteht sich auch mit wenigen Worten. Ein freundliches, ausgelassenes Miteinander, über Jahrzehnte aufgebaut von Marianne Christian. Sie weiß aber, dass es nicht immer so läuft wie bei ihren Treffen.
Das ist ganz klar, die gibt es auf der deutschen Seite und auf der polnischen Seite: Die alten Polacken, die doofen Deutschen, das gibt es überall. Uns trifft es nicht, und wir gehen dem aus dem Wege.
Vorurteile kennt auch die Krankenschwester Elsbeta Puchalska aus Zgorzelec. Dennoch gehören für sie die Städte zusammen:
"Heute gibt es praktisch keinen Unterschied zwischen beiden Seiten. Wenn man etwas braucht von der anderen Seite, dann geht man hin oder ruft jemanden an. Praktisch ist das eine Stadt geworden."
Eine Stadt, in der man einfach auf die andere Seite laufen kann. Vom zentralen Demiananiplatz, benannt nach einem frühere Oberbürgermeister, fährt der Bus der Linie P. Die Endhaltestelle ist der Real-Supermarkt in Zgorzelec, vorher geht es noch an der Mall Plaza entlang. Zum Einkaufen nach Polen, fast klischeehafte Ziele auf der anderen Neiße-Seite polnischen Seite. An diesem Tag wartet eine Handvoll Menschen auf den weißen Kleinbus. Einer von ihnen ist der Rentner Wolfgang Schubert, der einen polnischen Freund besuchen will:
"Wir fahren jetzt hier durch den Stadtpark, und am Ende des Stadtparks beginnt dann die Brücke, die hieß früher Reichenberger Brücke, weil sie Richtung Reichenberg ging. Dann zu DDR-Zeiten nach 1950 wurde die in Friedensbrücke umbenannt und jetzt heißt sie Johannes-Paul II-Brücke, nach dem verstorbenen polnischen Papst."
"Hier war früher die Grenzstation, da haben wir in den 60er und 70er Jahren bis zu vier Stunden gewartet wenn wir mit dem Auto rübergefahren sind. Zum Skifahren."
Und jetzt?
"Jetzt fahren wir über die Johannes-Paul-Brücke."
(Polnischer Fahrgast) "Keine Grenze, das ist wunderbar. Die Leute fahren hin und zurück, aus Polen nach Deutschland."
Schubert: "Nee, ich muss Licht anmachen, wenn ich über die Grenze fahre." (Gelächter)
Die Grenze ist mit dem Bus schnell überquert. Landschaftlich und architektonisch ändert sich naturgemäß wenig bei der Fahrt über die Brücke, die etwa 40 Meter breite Neiße überspannt.
(Fahrer) "Dom Kultury!"
"Hier muss ich aussteigen. Danke schön!"
Beißender Geruch von Braunkohle
Stop. Billigste Zigaretten der Stadt – so empfängt Zgorzelec seine Besucher. Die Geschäfte bieten Wodka an und andere Waren, die in Polen nach wie vor deutlich günstiger sind als in Deutschland. Die Zeit der großen Preisunterschiede jedoch, sie ist vorbei.
Es ist kalt an diesem Tag, der beißende Geruch von Braunkohle erinnert daran, wie verbreitet dieser Heizstoff in Polen ist. Die Neiße schlängelt sich durch den Stadtpark. Rot-weiße Grenzpfosten stehen auf der einen, schwarz-rot-goldene auf der anderen Seite. Sie wirken heute eher wie für die Touristen hingestellt. Etwa einen Kilometer flussabwärts von der Johannes-Paul-Brücke befindet sich die Altstadtbrücke, Symbol für das Zusammenwachsen der Stadt.
Sie heißt Altstadtbrücke, weil hier schon im 14. Jahrhundert eine Brücke stand. Aber die Brücke, auf der wir stehen, ist die neueste Brücke der Stadt. Sie wurde 2004 gebaut, zum EU-Beitritt Polens.
Marek Bader ist 40 und hat sein ganzes Leben in Zgorzelec verbracht. Neben seiner Arbeit als Versicherungskaufmann führt er Touristen durch die Region:
"Zgorzelec ist 71 Jahre alt, bis 1945 gab es kein Zgorzelec. Das was heute Zgorzelec ist, war der östliche Teil von Görlitz. Damals wohnten auf östlicher Seite ca. 10.000 Einwohner. Heute in Zgorzelec wohnen 31.000 Einwohner."
Mieten sind heute oft günstiger auf der Görlitzer Seite, wo bei 55.000 Einwohnern nach wie vor Leerstand herrscht. Ein Grund, warum viele Polen nach Görlitz ziehen. Für die Zukunft will auch Marek das nicht ausschließen. Er wohnt mit seiner Frau, einer Deutschlehrerin und den drei Kindern auf der polnischen Seite im Eigenheim. Ihm schaudert, wenn er an die Zeit der geschlossenen Grenze denkt:
"Für uns in Zgorzelec Europastadt heißt, dass wir in zwei Städten wohnen, aber es ist immer mehr eine Stadt. Also wir haben gemeinsame Kulturveranstaltungen. Wir haben ein gemeinsames Theater. Wir haben auch gemeinsame Kindergärten und Gymnasien, wo polnische Kinder können auf deutsche Seite lernen bis zum Abitur."
Und so werden auch seine Kinder in Zukunft ganz selbstverständlich zwischen den Stadtteilen und den Sprachen in der Europastadt hin- und herziehen. Wenn sie denn in einer Gegend bleiben wollen, die jungen Menschen nach wie vor nicht allzu viele Arbeitsplätze anbieten kann.
Zweisprachige Bildung
Anna-Maria Hantschke hat sich bewusst für Görlitz entschieden. Sie hat in Dresden und in Polen studiert und gearbeitet, jetzt fördert sie deutsch-polnische Begegnungen beim Meeting Point, einer gemeinsamen Einrichtung der beiden Städte. Hantschke arbeitet in der Koordinierungsstelle für internationale Jugendarbeit und bringt deutsche und polnische Jugendliche zusammen:
"Es ist eine Sache der Bildung. Einfach, dass man die Bildung zu beiden Seiten, dass man die zweisprachig hält, und auch für beide Länder öffnet. Und eben wir halten es für ganz wichtig, dass die mit dem Bewusstsein aufwachsen, dass die Grenze in den Köpfen ist und dass sie mit Europa aufwachsen, nicht bloß Deutschland und Polen, das ist ein kulturelles Niveau, dass wir anstreben für die Kinder und Jugendlichen, dass wir den zeigen wollen in den Projekten."
In Zeiten einer nationalistischen Regierung in Warschau und europäischen Grenzen, die sich schließen, wird diese Jugendarbeit immer wichtiger, sagt auch Hantschkes Kollegin Alexandra Grochowski. Sie glaubt aber nicht, dass die Politik der rechtskonservativen PiS-Partei direkte Auswirkungen auf das Leben in Görlitz und Zgorzelec haben wird:
"Es ist sehr schwer, diese enge Zusammenarbeit hier zu torpedieren dadurch. Aber die persönliche Ebene der Zusammenarbeit ist so gut, dass das weiter so laufen wird und sich auch noch verbessern wird. Aber es besteht die Gefahr, dass von oben herab aus Warschau bestimmte Dinge in eine andere Richtung gelenkt werden."
Sowohl Grochowski als auch Hantschke genießen die Vermischung und die Herausforderungen, die die täglichen interkulturellen Begegnungen in der Europastadt Görlitz/Zgorzelec bieten. Schon beruflich sind sie auf beiden Seiten unterwegs, gehen aber auch zum Pizza Essen oder Freunde treffen nach Polen, oder zum Basketballspiel des Erstligisten in Zgorzelec. Was könnte noch verbessert werden? Anna-Maria Hantschke wünscht sich, dass man in der Region weniger vom eigenen Auto abhängig ist:
"Also da könnte man auf jeden Fall noch die Kommunikation verbessern. Dass es einfach mehr Buslinien gibt, auch mehr Bahnlinien, die über die Grenzen fahren. Und dass man nicht um jede Bahnlinie kämpfen muss, wie jetzt den Zug nach Wroclaw."
In die europäische Kulturhauptstadt 2016 fährt seit Dezember wieder ein aus Dresden über Görlitz durchgehender Zug. Viele in Görlitz würden sich auch wünschen, dass die Straßenbahn wieder über die Neiße fährt. Ein Projekt, dass Görlitz und Zgorzelec in diesem Jahr beschäftigen wird. Es geht um Kosten für den Bau und die Unterhaltung. Auch wenn hier anders als in Bayern nicht wieder die Grenzen kontrolliert werden: Eine Straßenbahn über die deutsch-polnische Grenze, sie wäre gerade in diesen Zeiten mehr als schönes Symbol für das Zusammenwachsen einer einstmals geteilten Stadt.