Goethe 2.0

Das Leben eines Universalgenies digital

Auf dem Bild "Goethe in der römischen Campagna" von Johann Heinrich Wilhelm Tischbein liegt Goethe hingebettet vor einer italienischen Landschaft
Das Ölgemälde "Goethe in der römischen Campagna" von Johann Heinrich Wilhelm Tischbein hängt im Frankfurter Städel. © picture alliance / dpa/ Boris Roessler
Von Henry Bernhard |
Es ist eines der größten geisteswissenschaftlichen Forschungsprogramme der Bundesrepublik: "Propyläen. Forschungsplattform zu Goethes Biographica", nennt es sich. Wird der moderne Mensch den alten Dichter durch die digitalen Medien besser verstehen?
Goethe ist seit 1832 tot. Die Regale in den Bibliotheken biegen sich unter der Last der Gesamtausgaben. Nun hat heute die Gemeinsame Wissenschaftskonferenz des Bundes und der Länder grünes Licht gegeben für ein Projekt, das Goethes Leben ins 21., ins digitale Jahrhundert transportieren soll: Alles im weitesten Sinne Biographische, was also nicht poetisches oder wissenschaftliches Werk ist, soll in einem beispiellosen Forschungsprojekt neu aufgearbeitet und digital vernetzt verfügbar gemacht werden. Der Präsident der Klassik Stiftung Weimar, Helmut Seemann, zeigte sich beglückt ob der Nachricht, sei doch vieles, was über Goethe in den Regalen stehe, längst vom Forschungsstand überholt.
Helmut Seemann: "Das heißt: Während wir an der Goethe-Tagebuch-Ausgabe hier weiter arbeiten, wird das gesamte Korpus der Goetheschen Texte und der Texte an Goethe digital so erschlossen, dass wir eben, wenn wir einen Goethe-Text lesen, immer gleichzeitig das Goethe-Wörterbuch daneben lesen können, in die Regesten gehen können, aber auch in die Tagebücher gehen können. Und diese Vernetzung des Goetheschen Biographica-Korpus, das ist etwas vollkommen Neues."
Die Philologie des Drucks soll nun übergehen auf eine Philologie im digitalen Zeitalter. Nicht mehr sparten- sondern kontextbasiert soll sich der Forscher, aber auch der Laie weltweit online in das Leben Goethes einarbeiten. Das würde die Forschung auf ein neues Niveau heben, meint Seemann.
"Goethe wird dann wirklich eine Person, die uns viel transparenter sein wird als er sich selber je sein konnte, weil auch die Auffassungskraft eines Goethe nicht gereicht hätte, soviel über ihn zu wissen, wie wir heute über ihn wissen können. Das ist die Kombination von exzeptionell vielen Zeugnissen, die wir von und über Goethe haben, bei sehr gutem Erhaltungsstand – da ist wenig verloren gegangen – jetzt mit den Möglichkeiten einer digitalen Erschließung. Und das für den wichtigsten Kopf, der um diese Zeit herum gelebt hat!"
"Goethe mit Hyperlinks"
Sieben wissenschaftliche Stellen sollen durch das Projekt "Propyläen. Forschungsplattform zu Goethes Biographica" finanziert werden – fünf editorische in Weimar und zwei technische bei der Akademie der Wissenschaften und der Literatur in Mainz. Knapp 600.000 Euro stehen dem Projekt jährlich zur Verfügung – über 25 Jahre lang. Finanziert zur Hälfte vom Bund und je zu einem Viertel von Hessen und Thüringen. Ein Zukunftsprojekt, dessen Realisation angesichts des technische Fortschritts heute noch gar nicht in seinem vollen Umfang vorstellbar ist. Manfred Koltes, der stellvertretende Direktor des Goethe- und Schiller-Archivs in Weimar:
"Das heißt, die am Goethe- und Schiller-Archiv entstehenden Goethe-Ausgaben werden digital zusammengeführt, um dem Fachmann, aber auch dem wissenschaftlich interessierten Laien ein Material zur Verfügung zu stellen – also, in dem Fall können wir in der Editionsphilologie wirklich mal von Big Data sprechen –, und zwar in einer Form, die er also beherrschen kann! Je mehr Daten zusammengetragen werden, umso wichtiger ist die Orientierung in diesen Daten. Und das ist eben ein Ziel dieser Plattform Zum anderen soll aber auch eine Arbeitsplattform entstehen, dass die verschiedenen Teilprojekte viel mehr miteinander verzahnt werden können, das heißt, auch Ergebnisse von den Projekten genutzt werden können, was also der wissenschaftlichen Arbeit selbst wieder zunutze kommt."
Jeder Nutzer kann Originaltexte und Kommentare nach seinen Bedürfnissen strukturieren und kombinieren. Auch externe Wissenschaftler sollen ihre Arbeiten auf die Forschungsplattform heben können und damit den wissenschaftlichen Austausch erleichtern. Neue Bezüge zwischen verschiedenen Quellen sollen so das Leben und Werk Goethes besser verständlich machen. Gleichzeitig entsteht damit eine Datenbank für die kultur- und wissenschaftsgeschichtliche Forschung von der Mitte des 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts. Helmut Seemann meint: Dafür sei es höchste Zeit.
"Nun, die erste Ausgabe von Goethes Briefen und Tagebüchern, die ist ja schon Ende des 19. Jahrhunderts erfolgt. Aber wir sind heute auf einem wissenschaftlichen Durchdringungsstand des Goetheschen Werkes angekommen, das diese Ausgaben eigentlich unbrauchbar macht."
"Goethe 2.0" könnte man das, was auf der Forschungsplattform entsteht, etwas flapsig benennen oder "Goethe mit Hyperlinks". Und vielleicht wird der Geheimrat aus Weimar dann auch manchem gegenwärtiger, der ihn zur Zeit noch verstaubt und irrelevant für unsere Zeit in dicken Gesamtausgaben wähnt.
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