Theater in der Dunkelkammer
Im sechsten Stock eines Luxuskaufhauses im sibirischen Nowosibirsk richteten Berliner Theatermacher eine "Dunkelkammer" ein. Dort luden sie Experten und Zuschauer zu "Küchengesprächen" über Totalitarismus und den russischen Aktionskünstler Pjotr Pawlenski ein.
Wer in die Dunkelkammer will, muss durch ein Luxuskaufhaus. Vorbei an Kleidung, die sich kein gewöhnlicher Nowosibirsker leisten kann, fährt man hoch, hierher in den 6. Stock.
Der steht eigentlich leer, jetzt aber hat die Berliner Dramaturgin Hannah Hurtzig auf Einladung des Goethe-Instituts mit ihrer mobilen Akademie die riesige Etage verwandelt – in eine Dunkelkammer. Mit schwarzen Stoffen wurden Räume eingezogen, eine Küche eingerichtet, Leinwände aufgestellt und Stühle um die einzelnen Orte gruppiert. Eine schummrige, leicht stickige Atmosphäre, durch die 300 Leute wandeln oder sitzend gebannt lauschen – alle unter Kopfhörern.
Eine junge Frau erklärt im Video, worum es geht in dieser Dunkelkammer: um das Verschwinden und wieder Sichtbarmachen, so wie beim Entwickeln von Fotos, einem Vorgang, den es im digitalen Zeitalter nicht mehr gibt.
"Damit ein Text nicht verschwindet, braucht es ja nur einen Erzähler und einen Zuhörer. Wir haben ein 20-köpfiges Erzählerensemble engagiert und der Zuschauer, das sind Sie!"
Gedankentour nach Gogol
Die Idee: Jeder Gast kann sich ein Gespräch mit einem Experten buchen. Ausgangspunkt dieser Gedankentour: Nikolaj Gogols Roman "Die toten Seelen", Teil 2. Von Gogol selbst verbrannt. Ein Akt der Selbstzensur? Ein Roman, der perfekt in die Stadt passt, findet Hannah Hurtzig:
"Weil der Tschitschikow – der Hauptdarsteller bei Gogol - ist eigentlich ein Prototyp für Nowosibirsk – das ist ja eine Kommerzstadt – und Tschitschikow im 19. Jahrhundert ist eigentlich der Typus des Kreditbankers, des Unternehmers, der eiskalten Nase, die alles verkauft und die versteht, dass man alles verkaufen kann, auch wenn es keinen Gegenwert hat."
Also wird über die Themen des Romans geredet: über das Bankensystem, das Reisen und über den Tod als Anlagewert. Jeweils vier Zuschauer treffen auf die verschiedensten Experten, ein Zuschauer und ein Experte an je einem Tisch, um sie herum das Publikum, das per Kanal entscheidet, wem es gern zuhören möchte, immer 45 Minuten.
Hoch konzentrierte Blicke, wenn ein Totalitarismusforscher die Finanzkrise analysiert oder wenn der Tod und das Sterben aus Sicht eines Krematoriumsdirektors, eines Herzchirurgen oder einer Philosophin verhandelt werden.
Verhörprotokolle als Schattenspiele
Nebenan auf einer Leinwand ein Schattenspiel – gefilmt von einer Kamera. Zwei Schauspieler im Gespräch. Sie lesen aus den Verhörprotokollen des Aktionskünstlers Pjotr Pawlenski aus dem Jahr 2014. Der Künstler im Grenzbereich von Politik und Kunst ist das zweite Thema des Abends. Ein abwesender Körper statt eines abwesenden Textes: Kaum zu fassen, dass dies keine erfundenen Dialoge sind:
Wladimir Lemeshonok: "Auf den ersten Blick ist es ein Gespräch zwischen zwei Außerirdischen, die von zwei verschiedenen Planeten stammen. Dann aber ändert der Beamte während der Befragung sein Verhältnis zu Pjotr Pawlenski und zu diesem Prozess. Später wird er sogar zu einem Verteidiger seiner Ideen."
Schauspieler Wladimir Lemeshonok vom renommierten Nowosibirsker Theater "Rote Fackel" spricht den Beamten, der nach und nach versteht, worum es dem klug argumentierenden Künstler wirklich geht.
"Denn nur auf den ersten Blick scheint es, als wär Pjotr verrückt, aber wenn man sich in das Thema vertieft und in seine Weltansichten, dann versteht man, dass er ein wundervoller Mensch ist: einer, der scharf und angstlos auf das reagiert, was in der Welt passiert."
Spannend, so Hannah Hurtzig, ist all das, was drumherum entsteht:
"Denn die Aktionen selber sind ja ganz minimal. Das ist im Grunde genommen ein Foto und das eine Foto wird inszeniert, wird gezeigt und das war's. Also für ihn selbst ist die Aktion noch gar nicht die Kunst, sondern erst in dem Moment, wenn die Reaktionen sichtbar werden, natürlich als politischer Künstler die Reaktion des Staates, der Polizei, die Produktion von Debatte, vor allem Klatsch und Tratsch, die er auslöst - das versteht er dann als den Kunstakt."
Wodka, Abendessen, Gerüchteküche
Also entsteht gleich nebenan auch sowas wie Kunst: In einer nachgebauten russischen Küche, der Geburtsstätte des Gerüchts, dem Ort, an dem man das aussprechen kann, was öffentlich nicht diskutiert werden darf: Hier bekommen Klatsch und Tratsch eine Bühne. Bei Wodka und Abendessen werden die letzten Neuigkeiten aus dem Gerichtsverfahren ausgetauscht.
Leidenschaftlich diskutiert die Philosophin Oxana Timofeewa, die eben noch über Gogol und Zombies gesprochen hat, mit ihrem Kollegen Igor Chubar und dem Medientheoretiker Wladimir Velminski darüber, ob Pawlenski im Westen nicht erfolgreicher als Pussy-Riot wäre, wenn er sich mit dem Feminismus befassen würde.
Velimski ergänzt, es gäbe zwei Kritierien für erfolgreiche moderne Kunst in Russland: ein Gerichtsurteil oder die Anerkennung im Westen.
"Normalerweise führen wir solche Gespräche nicht in der Küche."
- sagt Restaurantmanager Arthur Ganagin, der so etwas noch nie in Nowosibirsk erlebt hat.
"Ich glaube, es ist ein bisschen zu liberal. Wenn das die Ausstellung eines nowosibirischen Künstlers wäre, dann würde das doch alles dezenter ausfallen. Hier aber werden ziemliche polarisierende Meinungen ausgetauscht. Ich finde das gut, wenn es Meinungen gibt, über die man diskutieren kann."
Ungewohnte Offenheit
Vier Stunden lang werden diese Meinungen diskutiert, in einer Offenheit, wie sie die Nowosibirsker ganz offensichtlich noch nicht erlebt haben und die sie spürbar genießen, das mutmachende Sprechen über jemanden, der es wagt, sich mit dem System anzulegen.
Wie anregend so ein öffentlicher Gedankenaustausch sein kann, wie stark die Diskussionen nachhallen, beweist dieser präzise und rhythmisch perfekt durchchoreografierte Abend im 6. Stock eines Nowosibirsker Luxuskaufhauses. Dafür Applaus.