Theater in der Dunkelkammer
Im sechsten Stock eines Luxuskaufhauses im sibirischen Nowosibirsk richteten Berliner Theatermacher eine "Dunkelkammer" ein. Dort luden sie Experten und Zuschauer zu "Küchengesprächen" über Totalitarismus und den russischen Aktionskünstler Pjotr Pawlenski ein.
Wer in die "Dunkelkammer" will, muss durch ein Luxuskaufhaus. Vorbei an Kleidung, die sich kein gewöhnlicher Nowosibirsker leisten kann, fährt man hoch, hierher in den sechsten Stock.
Der steht eigentlich leer – vor kurzem aber hat die Berliner Dramaturgin Hannah Hurtzig auf Einladung des Goethe-Instituts mit der "mobilen Akademie" die riesige Etage verwandelt – in eine "Dunkelkammer". Mit schwarzen Stoffen wurden Räume eingezogen, eine Küche eingerichtet, Leinwände aufgestellt – und Stühle um die einzelnen Orte gruppiert. Eine schummrige, leicht stickige Atmosphäre, durch die 300 Leute wandeln oder sitzend gebannt lauschen – alle unter Kopfhörern.
Gleich am Eingang: Olga. Olga heißt jenseits der Bühne Anton – und soll die Gäste begrüßen und gleichzeitig verwirren: geschminkt, mit High-Heels und Perücke ist der junge Mann von vorhin nicht wiederzuerkennen. Eine Drag-Queen in einer Theateraufführung? In der homophoben Atmosphäre Russlands kein selbstverständlicher Anblick. Und für ihn – Anton – ein Problem? Er tritt sonst vor allem in privaten Schwulenclubs auf.
Olga: "Ich werde so oft gebucht - da bemerke ich kaum, dass es solche Tendenzen gibt. Aber natürlich ist es schade, dass man hier nicht so frei und offen sein kann wie in Europa."
Es geht ums Verschwinden und wieder Sichtbarmachen
Worum es in der "Dunkelkammer" geht, erklärt eine junge Frau auf einem Bildschirm hinter Olga: Um das Verschwinden und wieder Sichtbarmachen – so wie beim Entwickeln von Fotos – ein Vorgang, den das digitale Zeitalter kaum noch kennt.
"Damit ein Text nicht verschwindet, braucht es ja nur einen Erzähler und einen Zuhörer. Wir haben ein 20-köpfiges Erzählerensemble engagiert und der Zuschauer, das sind Sie!"
Erzählt wird viel an diesem Abend – vier Stunden lang und an verschiedenen Stationen. Ausgangspunkt dieser Gedankentour: "Die toten Seelen" von Nikolaj Gogol. Ein Roman, der perfekt in die Stadt passt, findet Hannah Hurtzig:
"Weil der Tschitschikow – der Hauptdarsteller bei Gogol ist eigentlich ein Prototyp für Nowosibirsk, weil das ist ja eine Kommerzstadt. Und Tschitschikow ist eigentlich der Typus des Kredit-Bankers, des Unternehmers, der eiskalten Nase, die alles verkauft und die versteht, dass man alles verkaufen kann, auch wenn es keinen Gegenwert hat."
Wie würde man heute den zweiten Teil des Romans weiterschreiben? Gogol hat ihn in einem Akt der Selbstzensur verbrannt. Also nähert man sich einem verschwundenen Text durch Gespräche über die Themen des Buches: redet über das Bankensystem, das Reisen und über den Tod als Anlagewert.
Lesungen aus den Verhörprotokollen des Aktionskünstlers Pjotr Pawlenski
Jeweils vier Zuschauer treffen auf die verschiedensten Experten – zu zweit sitzen sie an einem Tisch, um sie herum das Publikum, das mit Hin-und Herschalten zwischen verschiedenen Audio-Kanälen entscheidet, wem es gern zuhören möchte. Immer 45 Minuten. Hochkonzentrierte Blicke, wenn ein Totalitarismusforscher die Finanzkrise analysiert, wenn der Kulturwissenschaftler den Zusammenhang von Zombies und der Angst vor Flüchtlingen erläutert oder wenn der Tod und das Sterben aus Sicht eines Krematoriumsdirektors, eines Herzchirurgen oder einer Philosophin verhandelt werden.
Nebenan auf einer Leinwand ein Schattenspiel – gefilmt von einer Kamera. Zwei Schauspieler im Gespräch. Sie lesen aus den Verhörprotokollen des Aktionskünstlers Pjotr Pawlenski aus dem Jahr 2014.
Der Künstler im Grenzbereich von Politik und Kunst - das ist das zweite Thema des Abends. Ein abwesender Körper – statt eines abwesenden Textes: Kaum zu fassen, dass dies keine erfundenen Dialoge sind!
Vladimir Lemeshonok: "Auf den ersten Blick ist es ein Gespräch zwischen zwei Außerirdischen, die von zwei verschiedenen Planeten stammen. Dann aber ändert der Beamte während der Befragung sein Verhältnis zu Pjotr Pawlenski und zu diesem Prozess. Später wird er sogar zu einem Verteidiger seiner Ideen."
Schauspieler Vladimir Lemeshonok vom renommierten Nowosibirsker Theater "Rote Fackel" spricht den Beamten – der nach und nach versteht, worum es dem klug argumentierenden Künstler wirklich geht und der in einen Dialog über Kunst und Politik gerät.
Vladimir Lemeshonok: "Denn nur auf den ersten Blick scheint es, als wär Pjotr verrückt. Aber wenn man sich in das Thema vertieft und in seine Weltansichten, dann versteht man, dass er ein wundervoller Mensch ist: einer, der scharf und angstlos auf das reagiert, was in der Welt passiert."
Kann er sich vorstellen, sich wie Pawlenski gegen das System aufzulehnen?
"Ich kann von mir nicht sagen, dass ich keine Angst hätte, dass ich mich das trauen würde, was er sagt. Ich bin Schauspieler und gewissermaßen ein Sklave: Vor mir steht ein Dramaturg, dann ein Regisseur und dann ich – ich habe nur einen kleinen Anteil am Ganzen."
Aktionen wie die von Pawlenski haben lange Tradition
Lemeshonok spielt im Theater "Rote Fackel" gerade mit Lavrenty Sorokin in einem Stück, dass der junge Regisseur Timofej Kuljabin inszeniert hat – also jener Regisseur, der vor einem Jahr den "Tannhäuser"-Skandal in Nowosibirsk provoziert hat. Sein Schauspielkollege erinnert daran, dass Aktionen wie die von Pawlenski, die heute zur Marke geworden sind, in Russland eine lange Tradition besitzen.
Schauspieler: "Als sich die orthodoxe Kirche zersplittert ist, haben die Altgläubigen unheimliche Aktionen gemacht – sich verbrannt, sich Unmenschliches angetan, um gegen den Staat und die neue Kirche zu protestieren."
Einsamer Kämpfer gegen den Staat
Für den 21-jährigen Philipp Krikunov ist Pawlenski ein einsamer Kämpfer gegen den Staat. Bewunderung klingt mit, wenn der Betreiber der einzigen Galerie für moderne zeitgenössische Kunst in Nowosibirsk über den Künstler spricht:
"Meine Lieblingsaktion bei ihm ist, die, wo er sich den Mund zugenäht hat – als Protest gegen die Verhaftung von Pussy Riot. Ich nehme ihn als einen schweigenden Künstler wahr. Deswegen glaube ich, ist es nicht ganz richtig, über einen schweigenden Künstler zu sprechen. Wenn er schweigt, sollen wir auch schweigen."
Dass sieht Hannah Hurtzig ganz anders. Das Sprechen über Pawlenskis Aktionen sei schließlich Teil des Kunstaktes:
"Denn die Aktionen selber sind ja ganz minimal. Das ist im Grunde genommen ein Foto. Und dieses eine Foto wird inszeniert – wird gezeigt und das war’s. Also es redet die Polizei, es redt die Justiz, es reden alle Künstlerkollegen, es redet die Presse un dzwar auch auf allen Ebenen: Der wird persönlich angegriffen, er wird als Heroe gesehen oder als leidendes Subjekt.
Und dann habe ich gedacht: Interessanter als diese Texte ist tatsächlich die Produktion von Sprechen, Debatte und - vor allen Dinge - Klatsch und Tratsch, die er auslöst. Und tatsächlich ist das auch sein Credo: Für ihn ist die Aktion selber noch gar nicht Kunst, sondern erst wenn die Reaktionen - auch des Staats und der Polizei, er ist ja ein politischer Künstler - sichtbar werden, das versteht er dann als sein Kunstwerk."
Klatsch und Tratsch in der Küche
Also entsteht gleich nebenan ein Teil dieses Kunstaktes: In einer nachgebauten russischen Küche – der Geburtsstätte des Gerüchts – dem Ort, an dem man das aussprechen kann, was in einem totalitären System öffentlich nicht diskutiert werden darf: Hier bekommen Klatsch und Tratsch eine Bühne. Bei Wodka und Abendessen werden die letzten Neuigkeiten aus dem Gerichtsverfahren ausgetauscht – in immer neu zusammengesetzten Runden.
Leidenschaftlich diskutiert die Philosophin Oxana Timofeeva – die eben noch über Gogol und Zombies gesprochen hat – mit ihrem Kollegen Igor Chubarov und dem Medientheoretiker Wladimir Velminski darüber, ob Pawlenski im Westen nicht erfolgreicher als Pussy-Riot wäre, wenn er sich mit dem Feminismus befassen würde. Velminski ergänzt, es gäbe zwei Kriterien für erfolgreiche moderne Kunst in Russland: ein Gerichtsurteil oder die Anerkennung im Westen.
"Ich bin extra hier zur Küche gekommen um zuzuhören", meint eine junge Zuschauerin, die so begeistert ist, dass sie morgen noch mal wieder kommen will.
Zuschauerin: "Es ist so interessant zu schauen, warum die Leute hier sind: Einige sind nur hier, um sich zu zeigen – andere sind total konzentriert. Die Gesichter der anderen zu beobachten, die um einen rum sitzen – und wie sie reagieren, das ist das Spannendste für mich."
"Normalerweise führen wir solche Gespräche nicht in der Küche", sagt Restaurantmanager Arthur Ganagin, der ein Format wie die "Dunkelkammer" noch nie in Nowosibirsk erlebt hat.
"Ich glaube, es ist ein bisschen zu liberal. Wenn das die Ausstellung eines nowosibirischen Künstlers wäre, dann würde das doch alles dezenter ausfallen. Hier aber werden ziemliche polarisierende Meinungen ausgetauscht. Ich finde das gut – wenn es Meinungen gibt – über die man diskutieren kann."
Und es wird viel diskutiert: In einem kleinen Kabinett kann man sich von einem Psychoanalytiker zu Fragen der Selbstzensur beraten lassen. Schnell vergessen die Fragenden im Zweiergespräch, dass dies kein intimer Raum ist – sondern jeder zuhören kann. Privat gemeintes wird öffentlich.
Nichts wird aufgedrängt, jeder entscheidet was her hören oder sehen will. Und wird so Teil von Gesprächen, die in einer Offenheit geführt werden, wie sie die Nowosibirsker scheinbar so noch nicht erlebt haben. Eine Offenheit, die die meisten sichtbar genießen: das Mut machende Sprechen über jemanden, der es wagt, sich mit dem System anzulegen.
Hurtzig nennt das "Theater der Kommunikation und Wissensvermittlung". Wir ergänzen: Ein bereichernder öffentlicher Gedankenaustausch, perfekt durchchoreografiert - im sechsten Stock eines Nowosibirsker Luxuskaufhauses.
Susanne Burkhardt reiste auf Einladung des Goethe-Instituts in die russische Metropole.
Es gibt ein Audio-Archiv, in das die mobile Akademie alle diese Gespräche später – z.T. übersetzt einstellt – unter: http://www.blackmarket-archive.com/#