Pro und Contra

Lohnt es sich heute noch, Goethe zu lesen?

Statue von Goethe, links des Einganges der Semperoper in Dresden, Sachsen, Deutschland
Denkmal, Klassiker, Schullektüre: Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832) © picture alliance / Bildagentur-online / H.Tschanz-Hofmann
Goethe zu lesen sei nicht mehr zeitgemäß, sondern bürgerliche Nostalgie, sagen manche. Zum jetzt anstehenden 275. Geburtstag des Dichterfürsten haben wir unsere Kulturredaktionen befragt: Lohnt sich Goethe heute noch? Die Antworten überraschen.
10:3 für Goethe: Im Fußball wäre das ein haushoher Sieg. Johann Wolfgang von Goethe, dessen 275. Geburtstag am 28. August gewürdigt wird, hat immer noch zahlreiche Anhänger unter den Literaturfachleuten im Deutschlandradio. Hier erklären einige von ihnen, warum sie weiterhin Goethe lesen, andere aber zum Beispiel Schiller bevorzugen.

Goethe lesen oder nicht, das ist hier die Frage

„Ja, was soll man denn sonst lesen? Das Freudvolle, Leidvolle und Gedankenvolle finden in Goethes großem, oft ironischem Werk ihre mal himmelhochjauchzende, dann wieder zu Tode betrübte Vollendung. Darüber hinaus war der glücklich geborene Weltbürger ein beneidenswert willensstarker Prometheus seines eigenen Lebens.“
Jan Drees, Literaturredakteur „Büchermarkt“
„Ja, natürlich, weil er in der Figur des Faust die fatale Sucht des Menschen nach ewiger Jugend und Attraktivität so trefflich beschrieben hat – Hochmut und Schwäche, Gier und Egoismus; die ewigen Abgründe der menschlichen Natur."
Dirk Fuhrig, Mitarbeiter in der Literaturredaktion
„Ja, weil die Szene im Werther, in der Lotte sagt: ‚Ich war eine der Furchtsamsten, und indem ich mich herzhaft stellte, um den anderen Mut zu geben, bin ich mutig geworden‘, eine der schönsten literarischen Emotionsszenen überhaupt ist.“
Undine Fuchs, Kritikerin für den „Büchermarkt“

Ach, was ich weiß, kann jeder wissen - mein Herz habe ich allein.

J.W. Goethe: "Die Leiden des jungen Werther" (1774)

„Nein. Lest Schiller: mehr Drama!, mehr Action!!, und die besseren Verse. ‚Geben Sie Gedankenfreiheit‘ statt Werther-Mimimi!!!“
Karin Fischer, Redakteurin „Kultur aktuell“
„Ja, weil Goethe in seinem Werk die ganze Welt in den Blick nimmt. Materielles und Metaphysisches, Buntheit, Abgründigkeit und Weite. In einem Zeitalter sich verengender Perspektiven eine erfrischende Stärkung. Auch des eigenen Wortschatzes und der Empfindungsfähigkeit.“
Carsten Hueck, Literaturredakteur „Lesart“ und „Büchermarkt“
„Viermal Ja! Weil sogar Chantal aus ‚Fack ju Göhte‘ den ‚Faust‘ freiwillig mit Gewinn gelesen hat und den Teufel für einen ‚Hurensohn‘ hält, auch wenn der Verfasser irgend so ein ‚Reclam‘ sein soll. Weil Goethe selber die Gretchenfrage nach dem Überlieferungsbruch der Moderne ist. Weil Goethe kein ‚Stabilitäts-Narr‘ (Ludwig Börne) oder ein ‚Zeitablehnungsgenie‘ (Heinrich Heine) war, sondern ein antinationalistischer, kosmopolitischer Weltliterat. Weil er uns dichterisch lehrt, Abstand von uns selber zu nehmen.“
Michael Köhler, Freier Mitarbeiter unter anderem bei „Kultur Heute“
„Ja, weil ‚Die Wahlverwandtschaften‘ zu den aktuellsten Beziehungsromanen gehört, weil ‚Faust I‘ ein Redensartenreservoir ist und weil der ‚West-östliche Divan‘ ein Beitrag zu dem ist, was heute Interkulturalität heißt. Und weil sogar Rudi Carrell es schon wusste: Goethe war gut!"
Beate Tröger, Literaturkritikerin für „Büchermarkt“

Nicht Gelegenheit macht Diebe
Sie ist selbst der größte Dieb;
Denn sie stahl den Rest der Liebe,
Die mir noch im Herzen blieb.

J.W. v. Goethe: "West-östlicher Divan" (1819)

"Nein, weil ich Goethe nur schwer nachsehen kann, dass er in seiner ersten Version von ‚Willkommen und Abschied‘ alles richtig gemacht hatte: ‚Du gingst, ich stund und sah zu Erden, / Und sah dir nach mit nassem Blick.‘ Wie treffend: der Mann passiv, verlassen, weinend. Sie geht – für immer, weg. Aber diese Rollenverteilung konnte Goethe wohl nicht stehen lassen. Die zweite Version lautet: ‚Ich ging, du standst und sahst zu Erden. Und sahst mir nach mit nassem Blick‘. Welch seltsame Verkehrung. Ach, hätte er doch der Realität statt seiner Phantasie geglaubt: Goethe als Genderloser.“
Christian Metz, Literaturkritiker für den „Büchermarkt“
„Natürlich lohnt es sich noch, Goethe zu lesen. Wahrscheinlich sogar ganz besonders in Zeiten, in denen das leicht klebrige Schiller-Pathos eher angesagt zu sein scheint. Dabei haben wir Ironiker, Arkadier und Wissenschaftler so viel nötiger. Und wie modern konnte der Geheimrat formulieren! ‚Alles ist jetzt ultra‘, so ein Satz ist doch sogar TikTok-kompatibel.“
Oliver Jungen, Mitarbeiter in der Literaturredaktion
„Ja, weil Goethe im ‚Faust' die für mich unsterblichen Zeilen schöpfte, in der Mephisto (‚der Geist, der stets verneint‘) sich outet als ‚ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft‘. Immer noch Stoff zum Nachdenken."
Axel Flemming, Freier Mitarbeiter in der Redaktion „Primetime“
„Natürlich Goethe lesen! Zu entdecken gibt es einen Dichter, Intellektuellen und Politiker in all seiner erfrischenden Diversität und Aktualität. Souverän in allen Literaturgattungen zeigt sich der Meister in seinen Werken und Briefen als anarchischer Aufklärer, visionärer Kapitalismuskritiker und weltläufiger Verächter des Nationalismus. Dass er als Naturforscher eher dilettierte und im Provinznest Weimar den biederen Hofrat gab – geschenkt!“
Angela Gutzeit, Freie Mitarbeiterin der Sendung „Büchermarkt“

Die Kirche hat einen guten Magen,
Hat ganze Länder aufgefressen
Und doch noch nie sich übergessen.

Faust - Der Tragödie erster Teil

„Nein, zumindest nicht, wenn man sich wie der TikTok-Account ‚Schoethe‘ davon queer-feministische Erbauung erhofft. Stattdessen findet man beim Dichterfürsten eher sowas: ‚Knaben liebt ich wohl auch, doch lieber sind mir die Mädchen. Hab ich als Mädchen sie satt, dient sie als Knabe mir noch.‘ (Venezianische Epigramme, 1790) By the way: ‚Göte‘ heißt auf Türkisch ‚in den Po‘."
Kolja Unger, Mitarbeiter der Redaktion „Corso“
„Ja, weil fast alles sich an Goethe messen lässt. ‚Faust‘ ist für mich nach dem Buch der Bücher, der Bibel, das wichtigste Werk der Weltliteratur. Außerdem sind seine Poesie, seine Sprache Seelenbalsam und geistige Nahrung.“
Doreen Glöckner, Redaktionsassistentin Musik/Produktion

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