Goethepreis für Dževad Karahasan

"Wenn ich unter Freunden sein will, muss ich zum Friedhof"

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Der bosnische Autor Dževad Karahasan blickt mit leicht geneigtem Kopf in die Kamera.
Dževad Karahasan war lange im Exil in Deutschland und Österreich, heute lebt er in Sarajevo und Graz. © imago images / Manfred Siebinger
Von Tobias Wenzel |
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Dževad Karahasan erhält den Goethe-Preis der Stadt Frankfurt. Seine Romane speisen sich aus der Erinnerung und kippen gern mal ins Fantastische. Sein Humor hat den Autor im Bosnienkrieg am Leben erhalten, ist aber stets melancholisch grundiert.
"Wenn ich in Sarajevo wirklich unter Freunden sein will, muss ich zum Friedhof gehen", sagt der bosnische Schriftsteller Dževad Karahasan, der nun den Goethepreis der Stadt Frankfurt erhält. Denn fast alle seine Freunde seien im Bosnienkrieg oder danach gestorben.
Das erzählt Dževad Karahasan in Sarajevo beim steilen Aufstieg zum muslimischen Bergfriedhof Ravne Bakije, wo er einmal selbst begraben werden möchte. Er hat darauf bestanden, die 200 Höhenmeter zu Fuß zurückzulegen: "Ich empfinde etwas Unanständiges darin, zu den Toten mit dem Auto zu fahren. Das geht irgendwie nicht."

Sarajevo als Schicksalsort

Auf dem Bergfriedhof angekommen, blickt Dževad Karahasan auf die Stadt, die er seinen "Schicksalsort" nennt. Er beschreibt, was die Leser schon aus seiner Literatur kennen: seine Vorstellung, die Toten seien nicht nur in unserer Erinnerung präsent. "Ich glaube, dass die Welt voller Geister ist. Wir sind nur nicht mehr imstande, mit ihnen zu kommunizieren. Wir hören die Sprache der Geister, der Pflanzen nicht mehr", bedauert er.
Obwohl er selbst Muslim ist, beruft sich Dževad Karahasan auf Franz von Assisi. Der habe nämlich noch Antennen für die Lebendigkeit der Welt gehabt. Muslime, Katholiken, Orthodoxe und Juden ‒ Sarajevo hatte sie alle friedlich vereint, genauso wie Bosnier, Serben und Kroaten.
Bis Serben von 1992 an Sarajevo belagerten. "Im Krieg kann man am besten die menschliche Güte kennenlernen, erfahren, verstehen. Es ist unglaublich, wie in Sarajevo während der Belagerung Leute sich gegenseitig geholfen haben", erzählt Dževad Karahasan.

Auf der Flucht

Dževad Karahasan flüchtete schließlich aus der umkämpften Stadt, hielt sich jahrelang in Deutschland und Österreich auf. Die Todeserfahrungen haben sich ihm aber tief ins Gedächtnis eingeschrieben. Überhaupt lebt der 67-Jährige wie die Figuren seiner Romane und Erzählungen stark in der Erinnerung und fühlt sich im Hier und Jetzt immer wieder fehl am Platz: "Sehr oft sind mir meine Toten viel lieber als die lebendigen Menschen, die ununterbrochen telefonieren und sich freudevoll per Satellit anschreien. Immer öfter sage ich zu meinen lieben Toten: Ich komme. Ich komme zu euch."
Simon, die Hauptfigur in Dževad Karahasans Roman "Der nächtliche Rat", ist wie der Autor aus dem Exil zurückgekehrt und stark gezeichnet von der Erinnerung an Krieg und Tod. Er steigt in einen Keller hinab, aus dem die Stimmen der Verstorbenen zu ihm dringen. Eine realistisch anmutende Geschichte kann bei Dževad Karahasan ins Fantastische kippen. Er selbst verlässt gern das Terrain der rationalen Erkenntnis, macht munter Ausfallschritte in die Metaphysik.
Schriftsteller Dzevad Karahasan fotografiert am 28.09.1993 in Berlin 
Neben seiner schriftstellerischen Tätigkeit war Karahasan (hier 1993) auch als Redakteur und Universitätsprofessor tätig.© imago images / gezett
Dževad Karahasan, dieser herzliche und gelehrte Mensch, wirkt im Gespräch wie ein moderner Sokrates. Ratlos und verzweifelt fühlte sich der Autor allerdings, als 1992 bosnische Serben die National- und Universitätsbibliothek Sarajevos durch Beschuss in Brand setzten.

Die Freude am Traurigsein

Dževad Karahasan verarbeitet diese Zerstörung in "Der Trost des Nachthimmels", seinem Roman über den persischen Naturwissenschaftler und Dichter Omar Chayyam, über Literatur und Erinnerung als Zufluchtsorte und über das Unheil des islamischen Fundamentalismus. Nun leben wir in Zeiten von Fundamentalismus und Populismus. "Die Demokratie, behaupten manche, konnte nicht ewig dauern. Ja, okay. Aber solange sie existierte, war sie großartig. Sie hat mir ein paar Jahre des Lebens Ruhe, Frieden geschenkt. Und dafür bin ich extrem dankbar", meint der 67-Jährige.
Schon spricht er von der noch existierenden Demokratie in der Vergangenheit. Dieser Autor vereint Widersprüche. Im Bosnienkrieg habe ihn der Humor am Leben erhalten, erzählt er. Das Schöne im Schrecklichen, für Dževad Karahasan ist es so notwendig wie das Traurige im Schönen: "Ich glaube, auch im Paradies müsste es eine Ecke geben, in der Melancholiker sitzen, rauchen, traurige Geschichten erzählen, ihre Sehnsüchte pflegen und ihre Freude daran, traurig zu sein."
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