"Es gibt nichts, das deckungsgleich mit dem Holocaust wäre"
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Postkoloniale Theoretiker kratzen mit Blick auf die Verbrechen des Kolonialismus an der Singularität des Holocaust. Der australische Historiker A. Dirk Moses spricht von der deutschen Erinnerungskultur als Staatsideologie. Der Historiker Götz Aly widerspricht vehement.
Eckhard Roelcke: War der millionenfache Mord an Juden durch die Nazis ein singuläres Ereignis, oder kann man ihn in Beziehung setzen zu den Verbrechen in den ehemaligen Kolonien, etwa in Afrika oder der Südsee? Es gibt Historiker und Theoretiker des Postkolonialismus, die dies tun, auch der australische Historiker A. Dirk Moses zählt dazu.*
Darüber spreche ich mit dem Historiker und Autor Götz Aly, der intensiv zum Holocaust geforscht und sich zugleich mit dem deutschen Kolonialismus auseinandergesetzt hat. Wenn Dirk Moses sagt, die deutsche Erinnerungskultur sei Staatsideologie und verstelle den Blick auf koloniale Verbrechen: Können Sie dieser These etwas abgewinnen?
Götz Aly: Nein, nichts. Erstens ist das Gedenken an den Holocaust keine deutsche Staatsideologie, sondern hat sich nach dem Zweiten Weltkrieg langsam entwickelt und ist heute in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Und es ist eine wirklich gesellschaftlich getragene Bewegung und keine, die von oben herab vom Staat gesteuert wird. Das ist das eine.
Das andere ist, dass es lange gedauert hat - unter anderem wegen der Verbrechen der nationalsozialistischen Regierung und unserer nationalsozialistisch gesinnten Vorfahren, und das waren sehr viele -, bis wir uns mit den Kolonialverbrechen, die im Vergleich dazu sehr viel kleiner sind, begannen zu beschäftigen. Und das geschieht jetzt, und zwar in getrennter Weise.
Roelcke: Es geschieht jetzt - geschieht es also zu spät?
Aly: Es geschieht spät, aber ich finde nicht, dass es zu spät geschieht. Man sollte sich freuen, dass es jetzt geschieht. Es ist auch von der gesamten deutschen Gesellschaft zu verantworten. Historiker, ich eingeschlossen, haben sich eben vorher damit nicht richtig befasst.
Kein flächendeckender Mord im Kolonialismus
Roelcke: Sie beharren also auf der Singularität des Holocaust.
Aly: Ja, ich gehe davon aus, dass der Holocaust bislang singulär ist.
Roelcke: Ist diese Debatte so etwas wie eine Neuauflage des Historikerstreits aus den 1980er-Jahren, nur unter anderen Vorzeichen?
Aly: Nein. Ich sehe darin zunächst den Versuch von Leuten, die zum Thema Kolonialismus arbeiten, sich mit der Decolonize-Bewegung beschäftigen und auch öffentliche Kampagnen führen, an Wichtigkeit zu gewinnen und die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken - und ich halte diese Versuche definitiv für falsch.
Es gab eigene Verbrechen, die in der Zeit des Kolonialismus stattgefunden haben. Die Deutschen haben auch von anderen Kolonialmächten gelernt. Aber es hat keine flächendeckende Ermordung von ganzen Bevölkerungen gegeben, die sozusagen anlasslos war. Juden sollten als Juden, weil sie Juden waren, ausgerottet werden.
In Afrika und bei verschiedenen Strafexpeditionen ging es immerhin darum, Gegenwehr niederzuschlagen. Das ist eine andere Situation. Niemals ist daran gedacht worden, ganze Bevölkerungen einfach nur deswegen auszulöschen, weil sie einer bestimmten Gruppe oder einer bestimmten Religion oder Ethnie angehörten.
Antisemiten in der postkolonialen Bewegung
Roelcke: Kann die Forschung zum Kolonialismus aus Ihrer Sicht auch etwas Neues hinzufügen?
Aly: Das glaube ich nicht. Natürlich steckt in der Politik des Nationalsozialismus auch der Gedanke des Kolonialismus und der Eroberung von sogenannten Lebensräumen und wirtschaftlichen Ergänzungsräumen. Das bezieht sich aber mehr auf Polen, auf die Siedlungspolitik, auf große Teile der Sowjetunion. Das hat nichts oder sehr wenig mit dem Genozid an den Juden zu tun.
Roelcke: Der Historiker Saul Friedländer, der auch viel zum Holocaust geforscht hat und dessen Eltern in Auschwitz umgekommen sind, befürchtet, dass sich der Antisemitismus "unter dem Banner" der postkolonialen Kritik ausbreiten kann und das zum Teil auch schon tut. Teilen Sie diese Befürchtung?
Aly: Es gibt in dieser postkolonialen Bewegung natürlich Antisemiten. In Berlin erleben wir, dass sie plötzlich von Musliminnen und Muslimen sprechen, die Opfer des Kolonialismus geworden seien, von Osmaninnen und Osmanen. Das wird übrigens vom Senat in Berlin mit einigen Millionen gefördert, das halte ich für einen Skandal. Das mischt sich durchaus, die Gefahr ist noch nicht sehr groß, aber ich finde, man sollte darauf achten.
Roelcke: Die Institutionen, die Geld für Forschung ausgeben, haben auch die Möglichkeit, neue Schwerpunkte zu setzen. Ist die Debatte, über die wir jetzt sprechen, auch so etwas wie eine Forderung nach mehr Kolonialismus-Forschung und weniger Holocaust-Forschung, also nach einer Aufwertung der postkolonialen Forschung?
Aly: Ja, klar, darum geht es immer, soweit das akademisch betrieben wird. An den Universitäten fordern sie Geld, sie fordern Professuren, sie fordern Institutionen, sie fordern DFG-Schwerpunktprogramme, Stipendien, Assistentenstellen. Das merkt man auch sofort, wenn man mit den Leuten spricht. Aber ich glaube, dass diese akademische Forschung uns nicht sehr viel weiterbringt.
Wir müssen ernsthaft mit den Leuten zusammenarbeiten, die in den (ehemaligen, Anm. d. Red.) Kolonien leben, die die Nachfahren derer sind, die kolonial unterdrückt wurden, deren Vorfahren Mordaktionen und Strafexpeditionen, Vertreibungen und Zwangsarbeit auf Plantagen ausgesetzt waren.
Das müssen wir alles ernst nehmen, aber das sind unterschiedliche Ereignisse. Es gibt viele Genozide und Massenmorde in der Geschichte. Da gibt es immer kleine Ähnlichkeiten und Dinge, die man vergleichen kann. Aber es gibt nichts, das (auch nur, Anm. d. Red.) in entfernter Weise deckungsgleich mit dem Holocaust wäre.
Leichtsinnige Thesen mit Steuermitteln gefördert
Roelcke: Macht Sie das auch wütend, wenn da die Proportionen so außer Kontrolle geraten?
Aly: Nein, wütend nicht, ich beobachte das, und man sieht ja, es gibt inzwischen auch Gegenwehr. Saul Friedländer hat völlig recht.
Was mich stört, ist, wenn das in leichtsinniger Weise öffentlich mit Steuermitteln gefördert wird - die unter anderem ich durch meine Bücher erbringe, die ja nicht staatlich finanziert sind. Und wenn Frau Grütters, die Staatsministerin für Kultur, aber auch der Berliner Senat solche Bewegungen zusätzlich mit Millionen fördern, finde ich das nicht in Ordnung.
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