Gohary: Die schönsten Tage meines Lebens
Es sei ein Gefühl gewesen, wie frisch verliebt - so schildert der an die 70 gehende Autor und Friedensaktivist Magdi Gohary seine Erlebnisse in Kairo. Er habe selbst auf dem Platz geredet und sich vor den jungen Leuten verneigt.
Matthias Hanselmann: Zur friedlichen Revolution in Ägypten haben wir hier im "Radiofeuilleton" eine ganze Reihe von Gesprächen geführt und wollen dies heute fortführen mit einem Mann, der unmittelbar dabei war, als es auf dem Tahrir-Platz in Kairo zu den entscheidenden Protesten kam, zur Belagerung des Platzes durch die Demonstranten. Sein Name: Magdi Gohary, er ist gebürtiger Ägypter, lebt aber schon seit vielen Jahren im deutschsprachigen Raum, er ist Autor und Journalist und Friedensaktivist. In letzter Zeit hat er mit seiner deutschen Frau zusammen unter anderem zwei Kochbücher geschrieben: "Arabisch kochen" und "Orientalisch kochen". Ich habe mich mit Magdi Gohary vor der Sendung unterhalten und ihn zunächst gefragt, wie es eigentlich dazu gekommen ist, dass er sich entschieden hat, seine Landsleute in Kairo zu unterstützen.
Magdi Gohary Ja, die Bewegung vom 6. April, so heißen die ... Junge Leute haben ja sich verabredet, am 25. Januar sollen sie demonstrieren. Und am 26. Januar rief mich mein Sohn an, der dort für das österreichische Fernsehen Büro im Nahen Osten leitet, und sagte, du wirst was verpassen, wenn du jetzt nicht kommst. Daraufhin bin ich nach Kairo geflogen, und für mich war das mit Abstand die schönste Zeit meines Lebens. Ich werde ja langsam 70, und das war wirklich mit Abstand ... das waren die schönsten Tage, die ereignisvollsten, die euphorischsten, die Sprache reicht nicht aus. Ich habe ja versucht, mein Gefühl da zum Ausdruck zu bringen, aber nachdem ich was gelesen habe von einem ägyptischen Autor, Chaled Chamissi, er hat genau dieses Gefühl festgeschrieben, und ich kann es nicht besser ausdrücken als er. Darf ich es zitieren?
Hanselmann: Ja, klar.
Gohary: "Was wir erleben, ist großartig, ja genial. Ich möchte die Fernbedienung des Daseins in die Hand nehmen und auf den Pausenknopf drücken, um jeden Moment einzeln ansehen und genießen zu können." Das ist genau so mein Gefühl, und ich kann mich erinnern, dass ... so ein Gefühl kriegt man ja, wenn man jung ist und wahnsinnig verliebt ist, dass man die Zeit einfrieren will, konservieren will, in Stillstand bringen will. So ein Gefühl hatte man.
Hanselmann: Sie sind also Ihrem Sohn dankbar, dass er gesagt hat, Väterchen, du musst jetzt kommen?
Gohary: Ja.
Hanselmann: Wenn man so ein Gefühl konservieren will, wenn man, wie Sie sagen, die Zeit anhalten will, kommt doch auch relativ schnell die Angst davor, dass eine Enttäuschung daraus werden könnte, dass irgendetwas passiert, das diesen Frieden und dieses Glücksgefühl stört.
Gohary: Natürlich, das liegt ja alles nah beieinander, also Glück und Trauer liegen ja nah beieinander. Aber ich bin sehr optimistisch. Ich bin sehr optimistisch. Aufgrund der Erkenntnisse, die ich emotional gewonnen hatte, glaube ich, dass diese Menschen keine Niederlage akzeptieren werden. Das kann es geben, Niederlagen wird es bestimmt geben, aber im Großen und Ganzen wird die Kurve nach oben gehen. Ägypten ist heute und wird morgen anders als vor dem 25. Januar. Das steht für mich fest. Also da glaube ich nicht, dass diese Sache umkehrbar ist, sie ist unumkehrbar geworden durch diese Menschen, die Menschen, die auf die Straße gegangen sind. Wie sie heute denken, die Menschen, mit denen ich ab und zu mal telefoniere – sie sind reifer geworden, so schnell reif in ein paar Wochen, das habe ich bei meiner eigenen Familie erlebt. Ich habe einen Bruder, der älter ist als ich, der ist amerikanischer Staatsbürger und der ist zufälligerweise dort gewesen – er ist stockkonservativ, also konservativer geht es wirklich nicht, Reagan gewählt, Bush, alles, wo wir auf die Straße gegangen sind, um dagegen zu sein, hat er alles bejaht. Wie er heute redet mit mir am Telefon – das ist unbeschreiblich! Was findet da statt in seinem Kopf!
Hanselmann: Ich spüre Ihre Begeisterung, ich sehe Ihnen diese Begeisterung auch noch an. Wir haben viel davon gehört, dass es sehr, sehr unterschiedliche Gruppierungen gibt in der Bevölkerung Ägyptens, Männer und Frauen natürlich, Junge und Alte natürlich, weniger Gläubige, gläubigere Menschen. Wie glauben Sie kann man mit diesen sehr unterschiedlichen Gruppen und Menschen eine Demokratie zustande bekommen?
Gohary: Gerade die Demokratie heißt auch Pluralismus, und ich kenne kein anderes Volk auf dieser Welt, das so religiös ist, und zwar nicht jetzt, seitdem die drei Religionen entstanden sind, sondern schon vorher. Im Niltal ist die Einheit Gottes sozusagen erfunden worden, unter Echnaton. Also die Ägypter sind von ihrer Natur her sehr religiös, bitte nicht zu verwechseln mit irgendwelchen fundamentalistischen Sachen, sondern einfach: Sie glauben an den lieben Gott, der Gott schickt ihnen das Hochwasser, tief gläubig, ja, da steckt auch dahinter 6000-jährige Geschichte. Der Pluralismus, dass Menschen, die kein Brot haben und andere, die zu viel Brot haben, dass sie gemeinsam an einem Strang ziehen, das habe ich selber erlebt am Tahrir-Platz. Ich erzähle Ihnen ein Erlebnis. Da kommt ein Mann und sagte zu mir: Ich habe drei Geschäfte, ich habe zwei Autos, ich habe eine Stadtwohnung und ein Haus außerhalb. Ich habe alles. Aber ich bin hier, weil ich es satt habe, dass ich jeden Tag schmieren muss, damit meine Geschäfte laufen. Ich muss Polizisten schmieren, ich muss Leute bei dem Versorgungsamt schmieren. Das ist unwürdig. Ich will so nicht leben. Und daneben stand genau ein Postbeamter, ein kleiner Postbeamter, der kein Brot hat, der erzählt hat, wie er mit seinem Gehalt nicht in der Lage ist, seine Kinder zu füttern. Die beiden standen gemeinsam. Das ist ein wahnsinniges Erlebnis – Brot und Würde und Freiheit gemeinsam. Dass da ein Differenzierungsprozess stattfinden wird, das ist selbstverständlich. Aber die Grundlagen von einer demokratischen Gesellschaft, also eine Gesellschaft, wo man würdevoll leben kann, die ist gelegt und die kann man heute nicht mehr rückgängig machen. Es gibt Point of no Return, das wird nicht mehr gehen.
Hanselmann: Sie haben gerade gesagt, Sie sind bald 70. Wie sehen Sie die Rolle der jungen Generation, der jungen Menschen in Ägypten bei diesem Umschwung, bei dieser friedlichen Revolution?
Gohary: Ich habe auf dem Platz geredet. Ich weiß noch, ich bin aufgestanden, das waren so zigtausend Menschen, ich habe mich verneigt, ich habe mich vorgestellt, ich habe gesagt, ich lebe seit 54 Jahren im Ausland, ich verneige mich vor den jungen Leuten, die das ausgelöst haben, die Aktivisten, die das gemacht haben. Wir haben euch unterschätzt. Wir haben gedacht, ihr spielt ein bisschen mit Computer und habt nichts im Kopf. Sie haben uns überrascht, sie haben mehr gewusst als wir. Es ist aber ein Fehler, zu sagen: Die ägyptische Revolution ist das Werk der Jugend. Das ist das Werk wirklich von allen.
Hanselmann: Die bekannteste ägyptische Frauenrechtlerin Nawal al-Saadawi hat gesagt, die Revolution habe auch ein weibliches Gesicht gehabt. Auch sie war täglich auf dem Tahrir-Platz wie Sie. Können Sie das bestätigen?
Gohary: Ja, ich habe sie getroffen, das ist eine alte Freundin von mir. Vor mir waren drei, nein, vier Frauen im Alter von 20 bis 50, von ihren Klamotten her konnte man sagen Bürgertum, und ich habe sie gefragt: Stellung der Frau – wie ist es da? Da laufen viele Frauen hier mit Kopftuch und so, was habt ihr gemeinsam eigentlich? Dann sprachen sie wieder von Würde. Das hat sich immer wiederholt. Und sie sagen: Diese Frauen jetzt, die hier waren, die mitgeschrien haben, mitgeredet haben, diese Frauen werden nicht mehr zu Hause nur Tee kochen und Kinder trockenlegen. Die Stellung der Frau ist nach dem 25. Januar besser als vor dem 25. Januar.
Hanselmann: Man wird nichts mehr als selbstverständlich und gegeben hinnehmen.
Gohary: Auch die Religion, also Muslime und Kopten, vorher war eine Spannung da, Kirchen wurden angezündet. Ab dem 25. die Polizei verschwand, das muss man sich vorstellen, keine einzige Kirche ist angezündet worden. Aber vorher wurden Kirchen angezündet. Wir wissen heute, wer sie angezündet hat: Das war das Innenministerium. Das heißt, das Regime hat versucht zu trennen, um zu herrschen. Und der Westen ist denen auf den Leim gegangen.
Hanselmann: Apropos, Sie haben geschildert wie es war auf dem Tahrir-Platz. Wir haben viele Bilder gesehen von dort, und wir waren alle erstaunt, wie unglaublich gut organisiert das alles abgelaufen ist. Gab es denn da eine Art Demokratisierung schon im Laufe dieser kurzen Zeit oder einer Selbstorganisationsgruppe, ein Gremium oder wie lief das ab?
Gohary: Ja, es gab mehrere Gremien. Zwei Fragen haben mich interessiert: Wie laden diese Leute ihre Handys, und was machen sie, wenn sie aufs Klo gehen wollen? Und ich bin diesen Fragen nachgegangen, und das haben sie wirklich gelöst. Da saß einer auf dem Boden, hat Strom angezapft, und da lagen unten hunderte von Mobiles, und die werden geladen. Und dann kriegt man eine Nummer und dann kommt man nach zwei Stunden. Oder die Toiletten – da kamen Installateure und haben freiwillig Rohre gelegt unter die Erde, und auf einmal waren hier hundert Klos da. Das ist unglaublich, und alles basisdemokratisch, mit kleinen Organisationen. Also es war nicht ein Komitee, ein hohes Komitee mit einem Führer oder so. Das ist vielleicht auch sogar einer der Gründe, warum es geklappt hat.
Hanselmann: Wenn Sie sich anschauen das Verhältnis der EU zu Ägypten und zu den politischen Kräften, die zurzeit in Ägypten das Sagen haben oder vielleicht auch das Sagen haben werden erst in den nächsten Wochen – wie sollte sich die EU in Zukunft verhalten gegenüber Ägypten?
Gohary: Ich glaube, die erste Amtshandlung ist, dass das geraubte Geld, Finanzkapital, das aus Ägypten geflossen ist durch diese ganze Korruption, von Mubarak seiner Familie und allen anderen – das muss zurück. Und zwar kann man sich nicht hinter irgendwelchen Bankgeheimnissen und Schutz von Bankgeheimnissen verstecken. Also der Westen, die EU muss aufpassen, dass diese Gelder zurückkommen. Die Ägypter wollen nicht betteln, sie wollen ihr Geld wieder zurückhaben. Das ist die erste Amtshandlung. Zweite Amtshandlung ist, zu lernen, neu zu lernen, in die Schule zu gehen und das ABC des Umgangs mit demokratischen Völkern in den Ländern der Dritten Welt zu beginnen. Das ist ein Lernprozess, das muss man lernen. ABC – wie gehe ich mit einer Gesellschaft um, die demokratisch ist? Wie gehe ich mit einem Interessenausgleich um? Die Marktgesetze, die ausgeschaltet worden sind, wenn es um Öl geht – das darf nicht mehr sein. Man muss auf der gleichen Augenhöhe miteinander sprechen. Und der Westen ist lernbar, das werden sie auch lernen können. Also den westlichen Politikern ist zu empfehlen, jetzt ein bisschen mehr zuzuhören und mehr in sich zu gehen und vielleicht aus der Vergangenheit zu reflektieren. Ein Stück Moral schadet nicht, wenn man ein Stück Moral in die Politik einziehen lässt.
Hanselmann: Das sagt der fast 70-jährige Magdi Gohary, aus Ägypten stammender Journalist und Autor. Vielen Dank für das Gespräch!
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Magdi Gohary Ja, die Bewegung vom 6. April, so heißen die ... Junge Leute haben ja sich verabredet, am 25. Januar sollen sie demonstrieren. Und am 26. Januar rief mich mein Sohn an, der dort für das österreichische Fernsehen Büro im Nahen Osten leitet, und sagte, du wirst was verpassen, wenn du jetzt nicht kommst. Daraufhin bin ich nach Kairo geflogen, und für mich war das mit Abstand die schönste Zeit meines Lebens. Ich werde ja langsam 70, und das war wirklich mit Abstand ... das waren die schönsten Tage, die ereignisvollsten, die euphorischsten, die Sprache reicht nicht aus. Ich habe ja versucht, mein Gefühl da zum Ausdruck zu bringen, aber nachdem ich was gelesen habe von einem ägyptischen Autor, Chaled Chamissi, er hat genau dieses Gefühl festgeschrieben, und ich kann es nicht besser ausdrücken als er. Darf ich es zitieren?
Hanselmann: Ja, klar.
Gohary: "Was wir erleben, ist großartig, ja genial. Ich möchte die Fernbedienung des Daseins in die Hand nehmen und auf den Pausenknopf drücken, um jeden Moment einzeln ansehen und genießen zu können." Das ist genau so mein Gefühl, und ich kann mich erinnern, dass ... so ein Gefühl kriegt man ja, wenn man jung ist und wahnsinnig verliebt ist, dass man die Zeit einfrieren will, konservieren will, in Stillstand bringen will. So ein Gefühl hatte man.
Hanselmann: Sie sind also Ihrem Sohn dankbar, dass er gesagt hat, Väterchen, du musst jetzt kommen?
Gohary: Ja.
Hanselmann: Wenn man so ein Gefühl konservieren will, wenn man, wie Sie sagen, die Zeit anhalten will, kommt doch auch relativ schnell die Angst davor, dass eine Enttäuschung daraus werden könnte, dass irgendetwas passiert, das diesen Frieden und dieses Glücksgefühl stört.
Gohary: Natürlich, das liegt ja alles nah beieinander, also Glück und Trauer liegen ja nah beieinander. Aber ich bin sehr optimistisch. Ich bin sehr optimistisch. Aufgrund der Erkenntnisse, die ich emotional gewonnen hatte, glaube ich, dass diese Menschen keine Niederlage akzeptieren werden. Das kann es geben, Niederlagen wird es bestimmt geben, aber im Großen und Ganzen wird die Kurve nach oben gehen. Ägypten ist heute und wird morgen anders als vor dem 25. Januar. Das steht für mich fest. Also da glaube ich nicht, dass diese Sache umkehrbar ist, sie ist unumkehrbar geworden durch diese Menschen, die Menschen, die auf die Straße gegangen sind. Wie sie heute denken, die Menschen, mit denen ich ab und zu mal telefoniere – sie sind reifer geworden, so schnell reif in ein paar Wochen, das habe ich bei meiner eigenen Familie erlebt. Ich habe einen Bruder, der älter ist als ich, der ist amerikanischer Staatsbürger und der ist zufälligerweise dort gewesen – er ist stockkonservativ, also konservativer geht es wirklich nicht, Reagan gewählt, Bush, alles, wo wir auf die Straße gegangen sind, um dagegen zu sein, hat er alles bejaht. Wie er heute redet mit mir am Telefon – das ist unbeschreiblich! Was findet da statt in seinem Kopf!
Hanselmann: Ich spüre Ihre Begeisterung, ich sehe Ihnen diese Begeisterung auch noch an. Wir haben viel davon gehört, dass es sehr, sehr unterschiedliche Gruppierungen gibt in der Bevölkerung Ägyptens, Männer und Frauen natürlich, Junge und Alte natürlich, weniger Gläubige, gläubigere Menschen. Wie glauben Sie kann man mit diesen sehr unterschiedlichen Gruppen und Menschen eine Demokratie zustande bekommen?
Gohary: Gerade die Demokratie heißt auch Pluralismus, und ich kenne kein anderes Volk auf dieser Welt, das so religiös ist, und zwar nicht jetzt, seitdem die drei Religionen entstanden sind, sondern schon vorher. Im Niltal ist die Einheit Gottes sozusagen erfunden worden, unter Echnaton. Also die Ägypter sind von ihrer Natur her sehr religiös, bitte nicht zu verwechseln mit irgendwelchen fundamentalistischen Sachen, sondern einfach: Sie glauben an den lieben Gott, der Gott schickt ihnen das Hochwasser, tief gläubig, ja, da steckt auch dahinter 6000-jährige Geschichte. Der Pluralismus, dass Menschen, die kein Brot haben und andere, die zu viel Brot haben, dass sie gemeinsam an einem Strang ziehen, das habe ich selber erlebt am Tahrir-Platz. Ich erzähle Ihnen ein Erlebnis. Da kommt ein Mann und sagte zu mir: Ich habe drei Geschäfte, ich habe zwei Autos, ich habe eine Stadtwohnung und ein Haus außerhalb. Ich habe alles. Aber ich bin hier, weil ich es satt habe, dass ich jeden Tag schmieren muss, damit meine Geschäfte laufen. Ich muss Polizisten schmieren, ich muss Leute bei dem Versorgungsamt schmieren. Das ist unwürdig. Ich will so nicht leben. Und daneben stand genau ein Postbeamter, ein kleiner Postbeamter, der kein Brot hat, der erzählt hat, wie er mit seinem Gehalt nicht in der Lage ist, seine Kinder zu füttern. Die beiden standen gemeinsam. Das ist ein wahnsinniges Erlebnis – Brot und Würde und Freiheit gemeinsam. Dass da ein Differenzierungsprozess stattfinden wird, das ist selbstverständlich. Aber die Grundlagen von einer demokratischen Gesellschaft, also eine Gesellschaft, wo man würdevoll leben kann, die ist gelegt und die kann man heute nicht mehr rückgängig machen. Es gibt Point of no Return, das wird nicht mehr gehen.
Hanselmann: Sie haben gerade gesagt, Sie sind bald 70. Wie sehen Sie die Rolle der jungen Generation, der jungen Menschen in Ägypten bei diesem Umschwung, bei dieser friedlichen Revolution?
Gohary: Ich habe auf dem Platz geredet. Ich weiß noch, ich bin aufgestanden, das waren so zigtausend Menschen, ich habe mich verneigt, ich habe mich vorgestellt, ich habe gesagt, ich lebe seit 54 Jahren im Ausland, ich verneige mich vor den jungen Leuten, die das ausgelöst haben, die Aktivisten, die das gemacht haben. Wir haben euch unterschätzt. Wir haben gedacht, ihr spielt ein bisschen mit Computer und habt nichts im Kopf. Sie haben uns überrascht, sie haben mehr gewusst als wir. Es ist aber ein Fehler, zu sagen: Die ägyptische Revolution ist das Werk der Jugend. Das ist das Werk wirklich von allen.
Hanselmann: Die bekannteste ägyptische Frauenrechtlerin Nawal al-Saadawi hat gesagt, die Revolution habe auch ein weibliches Gesicht gehabt. Auch sie war täglich auf dem Tahrir-Platz wie Sie. Können Sie das bestätigen?
Gohary: Ja, ich habe sie getroffen, das ist eine alte Freundin von mir. Vor mir waren drei, nein, vier Frauen im Alter von 20 bis 50, von ihren Klamotten her konnte man sagen Bürgertum, und ich habe sie gefragt: Stellung der Frau – wie ist es da? Da laufen viele Frauen hier mit Kopftuch und so, was habt ihr gemeinsam eigentlich? Dann sprachen sie wieder von Würde. Das hat sich immer wiederholt. Und sie sagen: Diese Frauen jetzt, die hier waren, die mitgeschrien haben, mitgeredet haben, diese Frauen werden nicht mehr zu Hause nur Tee kochen und Kinder trockenlegen. Die Stellung der Frau ist nach dem 25. Januar besser als vor dem 25. Januar.
Hanselmann: Man wird nichts mehr als selbstverständlich und gegeben hinnehmen.
Gohary: Auch die Religion, also Muslime und Kopten, vorher war eine Spannung da, Kirchen wurden angezündet. Ab dem 25. die Polizei verschwand, das muss man sich vorstellen, keine einzige Kirche ist angezündet worden. Aber vorher wurden Kirchen angezündet. Wir wissen heute, wer sie angezündet hat: Das war das Innenministerium. Das heißt, das Regime hat versucht zu trennen, um zu herrschen. Und der Westen ist denen auf den Leim gegangen.
Hanselmann: Apropos, Sie haben geschildert wie es war auf dem Tahrir-Platz. Wir haben viele Bilder gesehen von dort, und wir waren alle erstaunt, wie unglaublich gut organisiert das alles abgelaufen ist. Gab es denn da eine Art Demokratisierung schon im Laufe dieser kurzen Zeit oder einer Selbstorganisationsgruppe, ein Gremium oder wie lief das ab?
Gohary: Ja, es gab mehrere Gremien. Zwei Fragen haben mich interessiert: Wie laden diese Leute ihre Handys, und was machen sie, wenn sie aufs Klo gehen wollen? Und ich bin diesen Fragen nachgegangen, und das haben sie wirklich gelöst. Da saß einer auf dem Boden, hat Strom angezapft, und da lagen unten hunderte von Mobiles, und die werden geladen. Und dann kriegt man eine Nummer und dann kommt man nach zwei Stunden. Oder die Toiletten – da kamen Installateure und haben freiwillig Rohre gelegt unter die Erde, und auf einmal waren hier hundert Klos da. Das ist unglaublich, und alles basisdemokratisch, mit kleinen Organisationen. Also es war nicht ein Komitee, ein hohes Komitee mit einem Führer oder so. Das ist vielleicht auch sogar einer der Gründe, warum es geklappt hat.
Hanselmann: Wenn Sie sich anschauen das Verhältnis der EU zu Ägypten und zu den politischen Kräften, die zurzeit in Ägypten das Sagen haben oder vielleicht auch das Sagen haben werden erst in den nächsten Wochen – wie sollte sich die EU in Zukunft verhalten gegenüber Ägypten?
Gohary: Ich glaube, die erste Amtshandlung ist, dass das geraubte Geld, Finanzkapital, das aus Ägypten geflossen ist durch diese ganze Korruption, von Mubarak seiner Familie und allen anderen – das muss zurück. Und zwar kann man sich nicht hinter irgendwelchen Bankgeheimnissen und Schutz von Bankgeheimnissen verstecken. Also der Westen, die EU muss aufpassen, dass diese Gelder zurückkommen. Die Ägypter wollen nicht betteln, sie wollen ihr Geld wieder zurückhaben. Das ist die erste Amtshandlung. Zweite Amtshandlung ist, zu lernen, neu zu lernen, in die Schule zu gehen und das ABC des Umgangs mit demokratischen Völkern in den Ländern der Dritten Welt zu beginnen. Das ist ein Lernprozess, das muss man lernen. ABC – wie gehe ich mit einer Gesellschaft um, die demokratisch ist? Wie gehe ich mit einem Interessenausgleich um? Die Marktgesetze, die ausgeschaltet worden sind, wenn es um Öl geht – das darf nicht mehr sein. Man muss auf der gleichen Augenhöhe miteinander sprechen. Und der Westen ist lernbar, das werden sie auch lernen können. Also den westlichen Politikern ist zu empfehlen, jetzt ein bisschen mehr zuzuhören und mehr in sich zu gehen und vielleicht aus der Vergangenheit zu reflektieren. Ein Stück Moral schadet nicht, wenn man ein Stück Moral in die Politik einziehen lässt.
Hanselmann: Das sagt der fast 70-jährige Magdi Gohary, aus Ägypten stammender Journalist und Autor. Vielen Dank für das Gespräch!
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