Goran Vojnović: "Unter dem Feigenbaum"

Familienreigen auf dem Balkan

Goran Vojnović, "Unter dem Feigenbaum"
Vojnović entwirft ein Sittenbild der postjugoslawischen Gesellschaften © picture alliance / dpa / DB Brey/Folioverlag/Deutschlandradio
Von Jörg Plath |
Der slowenische Autor Goran Vojnović erzählt in "Unter dem Feigenbaum" eine Familiengeschichte über mehrere Generationen im ehemaligen Jugoslawien. Die Erzählung bietet Geheimnis und Spannung – und ergibt sich nur manchmal zu sehr dem Pathos.
In Goran Vojnović’ Roman "Unter dem Feigenbaum" kommt eine in alle Winde verstreute Familie zur Beerdigung des Großvaters zusammen. Im Roman wird die Beisetzung allerdings auf nur gut fünf Seiten abgehandelt. Davor und danach erzählt Vojnović in aufgelöster Chronologie Szenen aus dem Leben der Toten und der Lebenden in der jugoslawischen Volksrepublik und einigen Nachfolgestaaten. Der Roman schlägt eine Brücke zwischen Menschen und Regimen.
Um die zentralen Motive Einsamkeit und Verlassenwerden kreist bereits das erste Kapitel: 1955 lässt sich Großvater Aleksandar ins nördliche Istrien versetzen. Ein serbischer Politkommissar erwartet ihn voller Sehnsucht, der Familienname des Zuziehenden lässt ihn die Gesellschaft eines Landsmanns erhoffen. Doch der Großvater lehnt nicht nur die nationale Verbrüderung ab, er will auch das ihm angebotene Haus nicht beziehen. Denn in den Schränken hängen noch die Mäntel der vertriebenen Italiener – Istrien ist gerade zwischen Italien und Jugoslawien aufgeteilt worden. Aleksandar baut fünf Kilometer entfernt ein eigenes Haus, während seine Frau Jana das Haus der Italiener herrichtet. Später geht Aleksandar überraschend für ein Jahr nach Ägypten, weshalb Jana erwägt, sich scheiden zu lassen. Die Großeltern kommen nicht im nationalen serbischen, nicht im jugoslawischen und auch nicht im familiären Kollektiv zur Ruhe.

Die Geschichte wiederholt sich

Den Verwandten geht es in den Nachfolgestaaten Jugoslawiens nicht anders. Safet, der Mann von Aleksandars Tochter Vesna, verschwindet spurlos in seiner Heimat Bosnien, als die jugoslawischen Kriege ausbrechen, und Safets Sohn Jadran wird vor Aleksandars Beerdigung von Anja verlassen. Daher wiederholt Jadran, einer der zwei Erzähler des Romans, die Klage seines Großvaters: "Du musst nicht allein sein, um einsam zu sein."
Vojnović erzählt wie auch in seinen anderen Romanen nicht von politischen, sondern von existenziellen Erfahrungen. Suchte in seinem zweiten Roman "Vaters Land" der jugendliche Erzähler nach seiner Identität, so ist es nun eine ganze Familie.

Fiktionen sind notwendig, um sich selbst zu verstehen

Der 1980 geborene und auch als Filmregisseur erfolgreiche Autor entwirft in starken Bildern ein Sittenbild der postjugoslawischen Gesellschaften. Manchmal schrammt er am Sentiment und am Pathos nicht nur vorbei, was angesichts von so viel Melancholie und Einsamkeit kaum verwundern kann. Zuweilen löst den Ich-Erzähler Jadran ein allwissender Erzähler ab, der sich überraschenderweise als Sprachrohr Jadrans erweist. Denn auf den Vorwurf der zurückgekehrten Anja, er habe sich die Familiengeschichte nur ausgedacht, bekennt Jadran: Ja, denn Fiktionen seien notwendig, um sich selbst zu verstehen und um sie, Anja, lieben zu können – statt wie Großvater Aleksandar, Safet und viele andere die "unfrei" machende Liebe zu fliehen.
Dieser archimedische Punkt der Romankonstruktion ist entweder spätpubertär oder bewusst undeutlich formuliert – und zugleich eine ziemlich gerissene Liebeserklärung sowohl an Anja wie ans diskontinuierliche Erzählen voller Geheimnis und Spannung.

Goran Vojnović: "Unter dem Feigenbaum"
Aus dem Slowenischen von Klaus Detlef Olof
Folio Verlag, 2018
334 Seiten, 25 Euro

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