Gorbatschow hatte "eine enorme Kommunikationsfähigkeit"

György Dalos im Gespräch mit Frank Meyer |
Ohne Michail Gorbatschow als Initiator von Perestroika und Glasnost hätte es keine Revolution in den sozialistischen Ländern und auch keine deutsche Vereinigung gegeben. Warum und mit welchen Mitteln der Ex-Präsident der Sowjetunion diesen gewaltigen Umbruch auslösen konnte, hat der Historiker György Dalos in seinem neuen Buch "Gorbatschow. Mensch und Macht" untersucht.
Frank Meyer: Das Ferienhaus des sowjetischen Staatspräsidenten Gorbatschow am Schwarzen Meer: Am Nachmittag des 18. August 1991 werden da plötzlich alle Verbindungen von der Ferienvilla in die Außenwelt gekappt. Die Telefone sind tot, und gleichzeitig dringt eine Gruppe von hochrangigen Funktionären in die Villa ein. Sie haben eine Botschaft für den Präsidenten Michail Gorbatschow: Er soll abdanken, die Macht übernehmen jetzt andere. Der Historiker György Dalos hat diese Schlüsselszene aus dem Putschversuch im August 1991 an den Beginn seiner Gorbatschow-Biografie gestellt, und jetzt ist er hier bei uns im Studio. Seien Sie herzlich willkommen!

György Dalos: Guten Tag, ich begrüße Sie auch!

Meyer: Warum steigen Sie ein mit dieser Szene in Ihre Gorbatschow-Biografie, was sagt die über den Menschen, über den Politiker Gorbatschow?

Dalos: Also mein Untertitel heißt "Mensch und Macht", und das bedeutet, dass mich sehr interessierte, was die Macht aus einem Menschen machen kann und was ein Mensch aus der Macht machen kann. Und es gibt dann historische und dramatische Momente in einem Politikerleben, wo er praktisch, ich würde sagen den ganzen Sinn seines Lebens infrage stellen muss. Und das waren die Tage des Putsches, von denen man nicht ahnen konnte, ob das so relativ schnell und harmlos ausgehen wird. Und außerdem, er war mit seiner Familie in diesem Urlaubsheim, bis seine Frau mit seiner Tochter, dessen Mann und den kleinen Enkelinnen - also gewissermaßen (…) (Anm. d. Red.: Auslassung, da schwer verständlich) wurde der Staatschef einer der größten der beiden Supermächte als Geisel gehalten von der eigenen Staatssicherheit, von Leuten, die er selber ernannt hat, also eine Unmenge von Verrätern, die er befördert hat.

Meyer: Und Sie erzählen in Ihrem Buch praktisch die Geschichte, wie er bis zu diesem Punkt gekommen ist, der ja fast am Ende dann seiner politischen Karriere steht, in diesen Putschtagen. Schauen wir mal auf seinen Aufstieg: Er ist ja schon in jungen Jahren im Apparat der kommunistischen Partei aufgestiegen, Michail Gorbatschow, sein Aufstieg ins Zentrum der Macht begann so Anfang der 70er-Jahre. Ist er da schon als eine Art Reformer aufgefallen, als eine Art Liberaler unter den Kommunisten?

Dalos: Nein, ich glaube, es gab in den 60er-, 70er-Jahren diese liberalen Kommunisten einfach so nicht. Er war ein nüchtern denkender Funktionär, der versucht hatte, die von oben kommenden Befehle in irgendwelchen rationalen Rahmen auszuführen. Außerdem, er war in einer Region in Stawropol Parteichef geworden, was zunehmend vorwiegend landwirtschaftlich war, und Landwirtschaft, das war eine Sache, wo einer nicht nur vor den Kaprizen der Moskauer Obrigkeit, sondern auch noch vor den Kaprizen des Wetters zittern musste. Und diese ewige Zitterpartie hat Gorbatschows menschliche Qualitäten auch geprägt. Von ihm schreibt man in der Parteicharakteristik unter anderem merkwürdigerweise diesen Ausdruck: Er ist flink mit der Zunge. Das heißt, er hatte eine enorme Kommunikationsfähigkeit. Alle seine Gegner, die irgendwann ihn in den Rücken fielen, das haben sie deswegen hinter seinem Rücken getan, weil sie Angst hatten, mit ihm persönlich in Streit zu kommen, weil er immer die besseren Argumente hatte.

Meyer: Wurde er dann wegen dieser Kommunikationsgabe, wegen dieser Argumentationsfähigkeit 1985 zum Generalsekretär der KPdSU gewählt? Vor ihm war ja Breschnew abgetreten oder gestorben, Andropow, Tschernenko, also alte Männer standen vor ihm an dieser Stelle – warum wurde er dann gewählt?

Dalos: Es gab nicht viel andere Möglichkeiten. Er wurde 78 nach Moskau berufen als Sekretär des Zentralkomitees für Landwirtschaftsfragen, das war eigentlich ein Schleudersitz, weil das war besonders gefährlich. Andererseits glaube ich, dass dieses Altwerden der sowjetischen Elite, diese Unmöglichkeit der biologischen Erneuerung so stark auf dieser Gesellschaft lastete – ein halbes Krankenhaus leitete die halbe Welt –, und das waren keine Menschen, die reagieren konnten, und man brauchte jemanden. Ein späterer Berater, der auch ein hoher Parteifunktionär war, Schachnasarow, der sagt in seinen Erinnerungen, alle hofften in seiner Familie auf Gorbatschow. Den Namen sprachen sie nicht so oft, sondern sie sagten, wir warten auf Godot. Man wartete auf einen Menschen, der sich bewegen kann, dessen Gesicht eine Mimik hat, der lächeln kann, der irgendwelche ... Das waren alles leider kränkelnde, alte Männer, schwer beweglich, mit vor allem von allen möglichen Pharmakas völlig entstellten Gesichtszügen. Also Breschnew, der am Anfang eigentlich ein gescheiter und gewiefter Politiker war, der hat sich, wie das Gorbatschow selber beschreibt, in die eigene Karikatur verwandelt. Oder dieser Andere, der nicht einmal gehen konnte. Andropow, der mit wöchentlich zwei Dialysen eine Weltmacht führte.

Meyer: Und da war Gorbatschow dann ein ganz anderer. Wir reden über eine neue Biografie, "Gorbatschow. Mensch und Macht", die György Dalos geschrieben hat. Er ist hier bei uns im Studio von Deutschlandradio Kultur. Von heute aus gesehen könnte man ja denken, die Auflösung der Sowjetunion, des ganzen Ostblocks, das war Teil eines Planes, den Michail Gorbatschow vielleicht hatte. Das ist natürlich Unsinn, weil sich das damals 1985 ja auch niemand vorstellen konnte. Warum hat er damals diesen ganzen Umbau der Sowjetunion in Gang gesetzt, den man heute unter dem Begriff Perestroika benennt, und die politische Öffnung, Glasnost, warum hat er das Ganze in Gang gesetzt oder in Gang setzen müssen?

Dalos: Er wollte das System retten. Das sowjetische System hatte nicht nur Sünden, sondern auch Fehler gehabt. Es gab so strukturelle Fehler – das eine war, dass dieser militärisch-industrielle Komplex ungefähr 16 Prozent des Budgets in Anspruch nahm, also offen, die verdeckten Ausgaben gingen bis zu 40 Prozent. In den USA waren das ungefähr neun Prozent beziehungsweise 18, aber die USA hatte es besser gemeistert. Das war ein Albdruck auf der sowjetischen Wirtschaft. Das Zweite: die Landwirtschaft. Zarenrussland war mit der damaligen primitiven Technik der Getreideexporteur Nummer eins der Welt, und die Sowjetunion war der Getreideimporteur Nummer eins der Welt geworden. Und das ... so konnte man nicht weiter leben.

Meyer: Aber wenn Sie sagen, er wollte die Sowjetunion retten, er wollte dieses System retten, wie passt denn dazu, dass er dann zum Beispiel die Satellitenstaaten, also zum Beispiel die DDR, ja aus ihrer Abhängigkeit relativ bald entlassen hat und gesagt hat, ihr müsst euren eigenen Weg suchen? Musste ihm damit nicht klar sein, wenn da ein Stein aus der ganzen Reihe fällt, dann kommt vielleicht das ganze Weltreich, das sozialistische, ins Wanken?

Dalos: Dass er diese Verbündeten anders behandeln wird als seine Vorgänger, dieser Entschluss reifte relativ früh. Im Juli 1986 hatte er schon im Politbüro darüber gesprochen, dass wir können doch nicht dieses völlig vermoderte alte System unter unsere Fittiche nehmen, wir können uns das nicht leisten. Zweitens, natürlich, es war noch wichtiger, er wollte die Sowjetunion modernisieren, und zwar in einer relativ friedlichen Situation, weswegen er die Abrüstung betrieb, und zwar mit sehr mutigen und sehr großen Zugeständnissen. Und wenn er also diesen Raketenwettbewerb mit den USA nicht mehr weitermachen wollte, dann musste er eigentlich auch die Sowjetarmee, 800.000 Menschen weltweit, nicht außerhalb ihrer Grenzen haben. Er hatte eine relativ einfache Logik: Nach den damaligen Rechnungen konnten die beiden Supermächte nach ihrem nuklearen Potenzial einander zehnmal vernichten, und er hatte die Frage gestellt, warum zehnmal, warum nicht fünfmal, warum nicht dreimal, das ist billiger. Und das war eine Logik, die stärker war als die Logik des amerikanischen Präsidenten Reagan, der eigentlich in der Sowjetunion nur das Reich des Bösen sah.

Meyer: Wo wir gerade bei den militärischen Fragen sind: Es gab ja bei der Auflösung der Sowjetunion dann immer wieder auch Opfer, bei Unruhen, zum Beispiel in Ländern am Rande dieses Sowjetreiches, danach dann beim mörderischen Krieg in Tschetschenien, aber eigentlich hatte man sich ja den Untergang dieser extrem hochgerüsteten, militarisierten Supermacht auch sehr, sehr viel blutiger vorstellen können. Ist es das Verdienst von Michail Gorbatschow, dass es dazu nicht gekommen ist?

Dalos: Eindeutig, denn der Zerfall der Sowjetunion, der merkwürdigerweise eigentlich so begann, dass alle gegen die Russen sich aufgelehnt hatten – diese kleinen Republiken, die waren ökonomisch sehr abhängig –, sondern sie gegeneinander ihre alten historischen Rechnungen aufgehalten haben, und dass da relativ wenig Blut floss, das hängt doch mit Gorbatschows grundsätzlicher Ablehnung der gewaltsamen Lösungen zusammen. Nicht dass er nirgend ... , also manchmal müsste er etwas mehr Gewalt sogar wagen, zum Beispiel wenn es um Pogrome gegen die Armenier in Aserbaidschan ging, und manchmal war er sehr nah an Gewalt, aber im Grunde wollte er das friedlich machen.

Meyer: Michail Gorbatschow, er wird demnächst 80 Jahre alt, und Gyorgy Dalos hat eine Biografie über ihn geschrieben. "Gorbatschow. Mensch und Macht" heißt dieses Buch, es erscheint heute im Verlag C.H. Beck mit 290 Seiten und zum Preis von 19,95 Euro. Herr Dalos, vielen Dank für das Gespräch!

Dalos: Gerne!